Sicherheitsgefühl nach dem Anschlag: Dann hätte jemand angerufen
Nach einem Blick aus dem Fenster stellt sich Berlin friedlich dar. Im Internet herrscht dagegen Panik. Und was stimmt jetzt?
Kurz halte ich inne, trete zum Fenster und blicke auf den Berliner Nachthimmel – alles ist friedlich. Keine Sirenen, keine Schreie, keine Hubschrauber. Es besteht keine Gefahr, sagt mein Radar. Eigentlich. Die Frage nach dem In-Sicherheit-Sein wird in dieser Nacht nur noch paradoxe Antworten generieren.
Denn in meinen Geräten ist die Welt eine andere. Gruppen-SMS einer Freundin: „Passt auf euch auf!“ Nächste SMS: „Geht’s dir gut? Bleib zu Hause!“ Wie genau soll ich auf mich aufpassen? Warum sollte ich zu Hause bleiben? Weil zehn Kilometer weit weg, aber zufällig in derselben Stadt, ein Laster in eine Menschenmenge gefahren ist? Wieder der Blick nach draußen. Im Späti gegenüber spielen zwei Männer Karten.
Im Laufe des Abends wird auf Facebook der „Safety Check“ für die Region Berlin aktiviert, eine Funktion, über die NutzerInnen mit einem Klick allen ihren Kontakten mitteilen können, dass sie außer Gefahr sind – eine Funktion, die im Laufe der Nacht viele als sehr positiv bewertet haben und deren Nutzung sogar die Polizei empfiehlt.
Aber warum sollte ich denn in Gefahr sein?
Langsam fange ich an, mich zu ärgern über die Menschen, die sich Sorgen machen – und mich damit zwingen, mir auch Sorgen zu machen.
Plötzlich zum Teil der In-Crowd geworden
Wann man Angst hat und wann man sich sicher fühlt, hat mit Erfahrungswerten zu tun. Menschen können Ängste erlernen und verlernen, sie sind Affekte, die durch Diskurse beeinflusst werden. Seit einigen Jahren glauben laut Umfragen immer mehr Menschen, dass die Kriminalität in Deutschland zunimmt – während Kriminalstatistiken das Gegenteil zeigen. Das hängt auch damit zusammen, von welcher Gefahr man sich selbst betroffen sieht. Diese In-Crowd der Gefährdeten steigt durch die Sozialen Medien und die Vernetzung.
Nach Paris schienen alle gefährdet, die nach „westlichem Lebensstil“ Bars, Konzerte oder Fußballspiele besuchen. Ein Kneipenabend am 14. November 2015, dem Tag danach? Nicht ohne Grübeleien. Nach Orlando hatten queere Menschen in ihren Szenelokalen und auf Pride-Paraden ein mulmiges Gefühl.
Und jetzt – bin ich Teil der In-Crowd, weil ich mich in Berlin befinde, ein Facebook-Algorithmus Alarm schlägt und meine Bekannten sichergehen wollen, dass ich sicher bin. Ich verstehe das gut. Als die Nachrichten aus Paris kamen, habe ich einen Tag lang mit steigender Panik versucht, einen Freund anzurufen, der dort lebt – wohl wissend, dass es statistisch gesehen absurd ist. Jetzt ruft mich dieser Freund an. Genervt gehe ich ran: „Ich lebe.“ Auch drei Stunden später hat sich nichts verändert. Keine Sirenen, keine Schreie, keine Hubschrauber. Niemand schlägt Schaufenster von Läden ein. Die Männer spielen immer noch Karten. Nur die Quizshow im Ersten haben sie unterbrochen.
Ich denke an meine älteren Verwandten in ihren Mittelgebirgskäffern. Die das Internet nicht kennen und keine Smartphones haben. Die am nächsten Morgen eine Zeitung erhalten, in der vom Breitscheidplatz nichts drin steht. Und die, wenn sie dann von dem Ereignis hören, sich denken: Wäre was Schlimmes passiert, dann hätte jemand angerufen.
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