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Sich selbst neu erfindenDie Traurigkeit des Abschieds

Beim Umzug lässt man nicht nur schmutzige Tapeten, sondern auch Lebensabschnitte zurück. Doch der Ethikrat hat kein Verständnis für Abschiedswehmut.

Kampf der Wegwerfgesellschaft – ewiges Leben für die Sandförmchen Foto: Paul Zinken/dpa

W eil wir umziehen, hat mein Freund den Dachboden entrümpelt. Alles, was weggeworfen werden sollte, trug er zu einem großen Haufen in der Mitte zusammen. In einem unbeobachteten Moment stieg ich nach oben und klaubte einen alten Latz daraus hervor, den ich zur Geburt eines der Kinder bekommen habe, ein paar Kinderpuzzle-Teile sowie zwei selbst gebastelte Adventskalender in Form von Tannen, deren Spitzen die Jahre geknickt haben. Ich verstehe die Leichtigkeit nicht, mit der sich Menschen von Dingen trennen. Es ist, als trenne man sich von den eigenen Jahresringen.

Später am Abend ging ich zur nächsten Tauschbox, weil ich auf dem Haufen noch Sandförmchen und Pixi-Bücher gefunden hatte, die ich aus Protest gegen die Wegwerfmentalität meines Freundes aus dem Abfall herausfischte. In der Tauschbox rumpelte es, dann öffnete sich die Tür und der Ethikrat trat heraus. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Hinweise in Fragen praktischer Ethik geben. Der Vorsitzende des Rats trug einen Instrumentenkoffer, die beiden anderen Ratsmitglieder kamen jedes mit einer Schreibmaschine unter dem Arm hinter ihm her.

„Guten Abend“, sagte ich, „eröffnen Sie ein Schreibbüro?“, denn ich weiß, dass der Rat stets an neuen Geschäftsmodellen interessiert ist. „Sicherlich nicht“, sagte der Vorsitzende, „die Zukunft liegt nicht im Papier.“ „Wo liegt sie denn?“, fragte ich gereizt, denn sie findet sich mit großer Zuverlässigkeit dort, wo ich nicht bin. „Sie liegt in der Bewegung“, sagte der Vorsitzende, während er versuchte, die rostigen Schnallen des Instrumentenkoffers zu öffnen. „Wieso ist Bewegung ein Selbstzweck?“, fragte ich. „Alle fünf Jahre eine neue Wohnung, eine neue Stadt, eine neue Stelle, eine neue Beziehung – was ist daran so erstrebenswert?“

Was ich nicht sagte, war, dass ich jahrelang eine neue Wohnung gesucht hatte und nun, da wir gegen jede Wahrscheinlichkeit eine gefunden hatten, plötzlich nur noch sah, was ich an Vertrautem verlor – und sei es den graulockigen Nachbarn von nebenan, dessen Namen ich nicht kannte, der aber mit unerklärlicher Freundlichkeit grüßte. Oder den Zug von Schulkindern, die wie ein Ameisenvolk jeden Morgen die Straße entlangliefen und … Der Ratsvorsitzende unterbrach meine Überlegungen.

Staubwolke aus Dynamik

„Sicher ist Ihnen bewusst, dass der philosophische Blick sich von den Gefühlen des Betrachtenden löst“, sagte er. „Ich möchte mich gar nicht von meinen Gefühlen lösen“, unterbrach ich pampig. „Im Gegenteil. Es imponiert mir überhaupt nicht, wenn die Leute so tun, als erfänden sie sich im kapitalistischen Sieben-Jahres-Plan neu und streiften ihre Vergangenheit ab wie die Raupen ihre Kokons. Tatsächlich ist das doch nur eine Verneinung der eigenen Sterblichkeit, die sich mit einer Staubwolke aus Dynamik und Feng-Shui-Eiteitei tarnt.“

Nimm das, Ethikrat, dachte ich, aber der blieb unbeeindruckt. „Vielleicht interessiert Sie unser neues Vorhaben“, sagte der Vorsitzende und entnahm dem Instrumentenkoffer ein golden schimmerndes Horn, während sich die beiden anderen Ratsmitglieder mit ihren Schreibmaschinen auf eine Parkbank setzten. „Wir interpretieren das Helikopter-Streichquartett von Stockhausen neu mit Schreibmaschine und Horn.“

„Sozusagen eine zivil-vergeistigte Variante?“, fragte ich. „So ist es“, sagte der Ratsvorsitzende zufrieden, „wir nennen sie,Freitag aus Dämmerung'.“ Und er blies in das Horn, während die Schreibmaschinen klapperten. Es klang schrecklich, aber hinter uns blieb jemand stehen und warf eine Münze in den Instrumentenkoffer des Ratsvorsitzenden. Es war der graulockige Nachbar.

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Friederike Gräff
Redakteurin taz nord
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2 Kommentare

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  • Scheint also, als ob es ein neues Bedürfnis nach Kontinuität und Verbundenheit gibt, und ja, Verweilen ... auch unter jüngeren Menschen. Fehlte ja auch noch, dass wir unseren Lebensrhythmus durch die next-next-next-Mentalität der Fortschritts- und Wachstumsfetischisten durchtakten lassen...Danke, Friederike.

  • Danke, Literatur in bester Form!