Shamir-Konzert im Berliner Privatclub: Superheld mit Samtstimme
Charmanter als der Hype: US-Sänger Shamir überzeugt bei einem Live-Auftritt in Berlin und trifft mit seinem Postgender-Gestus einen Nerv.
Shamir ist das menschliche Äquivalent eines Katzenbabys: unglaublich niedlich, geschlechtlich ambivalent und sehr beliebt im Internet. In einem zentralen Punkt unterscheidet sich der Popstar allerdings vom Katzennachwuchs: Begeisterungsstürme entfachte er nicht allein wegen seiner Niedlichkeit, sondern vor allem wegen der Musik.
Der in Las Vegas lebende Künstler ist mit 20 in etwa so alt wie das Internet und so scheint der Zeitpunkt seines Auftauchens perfekt gewählt. Der US-Amerikaner ist postgender, geschulter Tumblr-, Twitter-, Instagram-User und erklärter Liebling des einflussreichen Internet-Musikmagazins Pitchfork. Dessen RezensentInnen brachten ihn auf die musikalische Landkarte, indem sie einen seiner Tracks in die Liste der „Best new songs“ aufnahmen.
Das Netz war begeistert – und spendete Komplimente wie „Supercutie with a satin voice“ (Twitter), oder „queer hero of the internet“ (The Guardian). In der Pitchfork-Liste hat sein Künstlername allerdings weniger Gewicht als jene Größen, mit denen der androgyne Shamir verglichen wurde: Prince, Grace Jones und Michael Jackson wurden als Referenzen genannt. Wahlweise gilt der 20-Jährige mit seiner ungewöhnlichen Countertenor-Stimme als Erneuerer von Disco, House oder R&B.
Jedenfalls trifft Shamir mit seinem Postgender-Gestus und seinen frenetischen, an die Neunziger gemahnenden Popsongs einen Nerv. Das liegt vor allem daran, dass er dem Hype auch musikalisch gerecht wird. Seine EP „Northtown“ und sein Debütalbum „Ratchet“ sind durchgehend von hoher Güte.
Umso größer war die Spannung vor seinem exklusiven Auftritt im Berliner Privatclub“am Montag: Funktionieren die Songs live? Ist diese cuteness in Bühnenpräsenz verwandelbar? Die Antwort lautet: Ja, Shamir ist so charmant, wie überall beschrieben, wenn auch etwas nervös. Das verzeiht ihm das Publikum im gut gefüllten Saal aber schnell. Und dann zeigt sich auch: Die Gefahr, dass bei einem so gehypten Internetphänomen ein Großteil des Publikums nur sehen will, was der so kann, war schnell gebannt.
Als Shamir im Tigermusterhemd die Bühne betritt, wird ihm Jubel zuteil. Schon der Auftaktsong „Vegas“, der auch sein Album „Ratchet“ eröffnet, wird mitgesungen und beklatscht. Ob House-Beats, Synthie-Dancebass, oder Percussionsgewitter – über die gesamten 45 Minuten, die die Show dauert, tanzt das Publikum trotz unerträglicher Hitze.
Beim Herumhüpfen löst sich der Dutt
Seinen Höhepunkt erreicht das Konzert mit den Hitsongs „On the regular“ und „Call It Off“. Dass Shamirs Stimme etwas brüchiger und quietschender als bei den Aufnahmen wirkt, ist wohl nur Aufregung geschuldet und gibt sich nach ein paar Songs. Ob Shamir nach einer Ballade mit verschämtem Blick ins Publikum schaut oder sich beim Herumhüpfen sein Dutt löst und die Dreadlocks fliegen – die ZuhörerInnen sind von dieser Darbietung mindestens so gebannt wie von vielen tausend Fotos der entzückenden Katzenbabys im Körbchen.
Unterstützt wird Shamir bei seinem Auftritt von einer sehr jungen Band: Sie besteht aus einer Background-Sängerin, einer Keyboarderin und einem Schlagzeuger. Die Sängerin entwickelt sich im Lauf des Konzerts zum heimlichen Publikumsliebling. Das liegt daran, dass sie elektronisch verzerrt auch die Parts in tieferen Lagen singt: musikalisches Gender-Bending. Dafür bekommt sie Szenenapplaus.
Shamir selbst hält es am Ende nicht mehr auf der Bühne. Er wagt ein Tänzchen im Publikum, das erwartungsgemäß begeistert ist – supercutie zum Anfassen. Bei aller Nahbarkeit ist die Show jedoch genau choreografiert: Nach seiner Tanzeinlage setzt sich Shamir ans Piano und singt die Ballade „I’ll never be able to love“. Dann geht er raus und raucht eine. Und man kann sicher sein: Shamir ist nicht nur im Netz ein Hype.
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