Sexueller Missbrauch: Sorge um das Wohl des Pfarrers
Bei einem Gesprächsabend über den suspendierten Pfarrer treibt die Gemeinde Mitleid nicht nur mit den Opfern, sondern auch mit dem Täter um.
Die Fenster sind offen im katholischen Gemeindehaus St. Joseph in Altona. Ansprechen will man dort, was lange verschwiegen wurde: Vor einer Woche hat das Erzbistum Hamburg den Priester vom Dienst freigestellt. Nach einer Anzeige hatte er zugegeben, bis in die 80er Jahre mehrere Kinder sexuell missbraucht zu haben.
Rund 50 Gemeindemitglieder waren am Dienstag der Einladung des Bistums gefolgt. Eine Stunde Zeit wollten sich Domkapitular Ansgar Thim und die Psychologin Gabriele Anders für die Fragen der Gemeinde nehmen. Von Anfang an stellten die beiden Missbrauchsbeauftragten klar: Einzelheiten aus den Vernehmungsprotokollen könne man nicht offenlegen, für Fragen aller Art sei man aber offen.
Die kamen dann aus unterschiedlichsten Blickwinkeln: Wie es dem Pfarrer ergehen werde, bewegte vor allem den kleinen Kreis von älteren Gemeindemitgliedern, die sich um den Tisch in der Mitte gruppiert hatten. Was das für die Kinder in der Kita und der katholischen Schule bedeute und ob man der Kirche überhaupt noch trauen könne, wollten die übrigen wissen, die außen um die Gruppe herum saßen. Der Versuch eines Kreises misslang. Wer keinen Platz ergattert hatte, saß angespannt auf der Fensterbank oder lehnte an der Wand. Keiner tuschelte, alle warteten. Kaum thematisiert wurde die Situation der Opfer.
Zwölf Geistliche wurden bisher im Erzbistum Hamburg des sexuellen Missbrauchs beschuldigt.
Am 10. Mai teilte das Erzbistum mit, es habe einen weiteren Priester vom Dienst freigestellt.
Der Priester gestand den Missbrauch eines 13-Jährigen bei einem Pfadfindertreffen 1975 in Ahrensburg, Norwegen und Hamburg und nannte auch weitere Betroffene, mit denen es bis 1984 zu sexuellen Handlungen gekommen sei.
Auch ein evangelischer Pastor soll in den 70er und 80er Jahren Jugendliche in Ahrensburg missbraucht haben. Gegen ihn wird seit Mittwoch ermittelt.
"Was passiert mit dem Pfarrer?", wollte etwa ein älterer Mann mit Stock wissen. Ob sich das Bistum um ihn kümmern werde. Ein Raunen ging durch den Raum. "Der Pfarrer ist in den Ruhestand versetzt worden", antwortete Thim. Die Fälle seien mittlerweile verjährt, der letzte geschah 1984. Strafrechtlich könne der Priester nicht belangt werden, sofern sich nicht weitere Opfer meldeten. "Wie kann das sein? Andere Pädophile kommen ins Gefängnis oder in die Psychiatrie. Und er bekommt noch eine Pension!" entrüstete sich eine Frau. Aber "der Pfarrer hat sich lange um uns gekümmert", warf der ältere Herr ein und stampfte mit seinem Stock auf den Boden. Es sei immerhin eine Strafe, wenn ein Priester seinen Dienst nicht mehr ausüben dürfe, antwortete der Missbrauchsbeauftragte Thim.
"Was hat der Pfarrer empfunden, wenn er mit dieser Schuld das Allerheiligste in der Kommunion ausgeteilt hat", fragte ein Nachbar des älteren Herrn am Tisch. Das müsse er ihn schon selber fragen, raunte die Menge.
Wie lange das Bistum schon von den Vorwürfen wusste, fragte eine junge Frau. Sie schaukelte ihr Baby in einem Tragetuch. Ob es keine Personalakte gegeben habe? Warum nicht reagiert wurde? Wie sie einem Bistum vertrauen solle, das solche Vorfälle verschweige? Ihre Stimme zitterte. Der Missbrauchsbeauftragte Thim wich zunächst aus.
Es habe zwei Vermerke aus den 70er Jahren in der Personalakte gegeben, räumte er dann ein. In der Beichte habe der Pfarrer oft nach Sexuellem gefragt. Auch ältere Kinder hätte er nackt getauft. Vom Missbrauch habe das Bistum erst mit der Anzeige vor drei Wochen erfahren. "Sagen Sie mir, wie ich dieser Kirche vertrauen soll?", fragte die Frau mit belegter Stimme. Ihre Kinder gehen in die katholische Kita. Sie sind evangelisch getauft. Zum Glück, sagt sie.
"Meine Tochter wurde von unserem Pfarrer getauft, am liebsten würde ich sie noch einmal taufen lassen", meldete sich eine andere Mutter. Sie sei alleinerziehend. Ihre Tochter gehe in die katholische Schule. Der Pfarrer sei wie ein Papa für sie gewesen. "Wie soll ich ihr erklären, was der Pastor gemacht hat?", will sie von den Missbrauchsbeauftragten wissen. Die Frage blieb offen.
Stattdessen luden sie die Anwesenden für die kommenden Wochen zum persönlichen Gespräch ein. In den nächsten Tage wollen sie Postkarten in Kirchen und katholischen Einrichtungen auslegen. Thims und Anders Kontaktdaten sind darauf zu lesen. "Betroffen?" steht vorne.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?