Sexuelle Revolution dokumentiert: „Man nimmt das so hin als Kind“
Paul-Julien Robert hat einen Film über seine Kindheit in der Kommune von Otto Mühl gedreht: „Meine keine Familie“ ist auch ein Dokument aus linken Zeiten.
taz: Herr Robert, Ihr Film „Meine keine Familie“ dokumentiert die Geschichte der AAO-Kommune Otto Mühls. Es ist auch Ihre Geschichte: Sie sind in dieser Kommune aufgewachsen. Wie kam es zu dem Film?
Paul-Julien Robert: Anfangs wollte ich nur ein besonderes Ereignis recherchieren: den Tod meines juristischen Vaters, der sich in der Kommune mit einem Messer das Leben nahm.
Juristischer Vater?
Ja, der Mann, der für mich offiziell als Vater galt. Biologische Vaterschaft spielte in der Kommune ja keine Rolle. Da die Behörden auf der Eintragung eines Vaters bestanden, wurde einer ausgewählt, den meine Mutter heiratete. Wer mein biologischer Vater war, erfuhr ich erst später.
Wie näherten Sie sich seinem Selbstmord?
In der Kommune wurde fast der ganze Alltag dokumentiert. Viele Bilddokumente und schriftliche Erzeugnisse sind noch in Friedrichshof archiviert. Ich fand Dokumente vom Tag vor seiner Selbsttötung. Und vom Tag danach, als Otto Mühl den Kommunarden erklärt, was passiert ist. Meine Mutter und andere haben mir für den Film genau das erzählt, was Otto Mühl damals erzählt hat, teilweise im Wortlaut. Überrascht hat mich diese Kälte, deren Gleichgültigkeit. Unter diesen Menschen hat nie ein Gespräch über dieses Ereignis stattgefunden.
kam auf dem Friedrichshof als Kind einer Kommunardin zur Welt, er lebt heute in Wien. Seine biografische Spurensuche im einstigen Kommune-Umfeld verarbeitete er zu dem Film „Mein keine Familie“ (Österreich 2012).
***
Im Gefolge der 68er-Bewegung gründeten sich im deutschsprachigen Raum Tausende von Landkommunen. Die berühmteste was die 1970 vom Wiener Aktionskünstler Otto Mühl gegründete Aktionsanalytische Organisation (AAO) auf dem Friedrichshof bei Wien. Anspruch der Sekte: Gemeinschaftseigentum, freie Sexualität und Auflösung der „faschistischen“ Kleinfamilie.
Die AAO war strikt hierarchisch organisiert und nach außen abgeschottet. Otto Mühl war Führer und Guru, seine Nächsten und seine Frau Abteilungsleiter. Mühl wurde 1991 wegen Unzucht mit Unmündigen und Missbrauch von Autoritätsverhältnissen verurteilt. Er starb im Mai diesen Jahres.
Sie wundern sich im Film, dass sich nicht mehr Kommunarden umgebracht haben. Wieso?
Dass wir Kinder das alles überlebt haben, das wundert mich im Nachhinein. Vielen von uns geht es heute nicht gut, aber wir haben alle genug Lebensenergie.
Hat die sexuelle Revolution die Kinder auf dem Gewissen? Oder ist die heutige Aufregung über frühere Pädophiliefreundlichkeit hysterisch? Die taz will das Damals nicht nur aus dem Heute verstehen. Und blickt deshalb mit einem Dossier zurück: Auf Wilhelm Reich, Befreiungsdiskurse und Kommunen-Experimente. Und auf das Erbe der Befreiung. Die Ausgabe im eKiosk.
In Ihrem Film wirkt die Kommune fast so, wie man sich ein Lager im Kambodscha Pol Pots vorstellt: Konformität, Führerkult, Zurichtung. Was war für Sie die Kommune?
Man muss den Friedrichshof auch aus seiner Zeit heraus begreifen. Am Anfang war das ein mutiges, lebendiges Experiment. Die Bewohner brachten ihre eigenen Ideen ins Zusammenleben ein. Dann fand allmählich die Verwandlung statt. Vom menschlichen Stamm zu einem autoritären System am Ende. Es war ein Mikrokosmos, der sich radikal veränderte.
Wie merkte man diese Veränderungen im Alltag?
Zum Beispiel die Sexualität: In den Siebzigern schlief die ganze Kommune auf einem großen Hochbett, da haben wir Kinder die Sexualität der Erwachsenen total mitbekommen. Ab Mitte der Achtziger war alles durchorganisiert. Nur die Frauen hatten ein Zimmer, die Männer mussten sich für jede Nacht eine Frau suchen. Es gab nicht genug Platz auf dem Hof, und Privatsphäre war sowieso nicht vorgesehen. Die Kinder schliefen in Stockbetten, Mädchen und Jungen getrennt.
Einige Rituale der Kommune verstören: Abends mussten alle zur Performance vor der Gruppe antreten, um sich zu zeigen, ja, zu entblößen. Wie haben Sie das als Kind empfunden?
Man nimmt das so hin als Kind. Das war unser Alltag. Der Zusammenhalt nach innen war stark, vor allem weil das Bild, das wir von der Welt draußen vermittelt bekamen, ein so negatives war: Aids, Tschernobyl …
Was bekamen Sie von der Welt draußen mit?
Wenig. Wir waren fast immer auf dem Gelände, auf Ausflügen waren Erwachsene dabei. Es gab nie die Möglichkeit, einen Schritt alleine zu tun. Wir hatten keine Zeitungen, keinen Fernseher, kein Telefon. Als Lektüre bekamen wir jede Woche das Material, das Mühl mit einem kleinen Kreis erarbeitet hat, und Schulbücher. Literatur von außen gab es nicht.
Gab es unter den Kindern so etwas wie Solidarität oder Trost?
Es gab Freundschaften und Menschen, die einem näherstanden. Aber das Perfide am System war, dass es dazu gehörte, sich gegenseitig zu verpetzen. Beim täglichen Treffen ging es genau darum: zu melden, was andere schlecht gemacht haben. Ich versuchte immer, mich möglichst unsichtbar zu machen.
Aber wenn Sie tanzen mussten? Wie der Junge in Ihrem Film, der nicht Mundharmonika spielen wollte und von Otto Mühl öffentlich gedemütigt wurde. Von den anwesenden Erwachsenen griff keiner ein. Was lösten solche Szenen bei Ihnen aus?
Ich bewunderte meinen Freund für seine Sturheit: Er weint, aber er spielt nicht Mundharmonika. Jemand sagte mir, die Szene sei für ihn die schönste im ganzen Film. Weil sie zeigt, dass es Menschen gibt, die Nein sagen können. Egal, was für Konsequenzen daraus folgen.
Sie sind mit dem Schreckbild von der „bürgerlichen Kleinfamilie“ aufgewachsen. Die aufzulösen, war oberste Bestrebung der Kommune. Sie führen jetzt selbst eine klassische Zweierbeziehung …
… ja, und ich werde bald Vater. Mama, Papa, Kind. Das ist schon ein Wagnis, für mich vielleicht noch mehr als für andere. Ich musste erst einige Ängste und Vorurteile beiseite schieben. Aber jetzt klappt es ganz gut.
Sprechen wir über Ihre Mutter: Sie ließ Sie als Vierjährigen in der Kommune zurück, um zu arbeiten. Haben Sie das als Verrat empfunden?
Ja, schon da hatte ich das Gefühl von Verlassenwerden und von Vertrauensbruch. Es war wohl auch am Ende der Grund, warum wir nie so richtig zueinander gefunden haben.
Ihre Mutter kam nur gelegentlich am Wochenende. Im Film sagen Sie, dass Sie vor diesen Besuchen Angst hatten, weil Sie den erneuten Abschied fürchteten. Wer gab Ihnen damals Halt?
Die Kindergruppe, in der ich lebte. Und ein paar Erwachsene. Der Zusammenhalt war stark. Andererseits gab es keine Zuneigung, keine Loyalität, auf die Verlass war. Jeden Tag wurde die Rangordnung neu bestimmt: Wer etwas gilt, wer belohnt wird und wer entwertet. Diese Entscheidungen waren so willkürlich wie die tägliche Beurteilung: Einen Tag fanden dich alle toll, am nächsten warst du unbeliebt.
Wie viele Kinder waren Sie auf dem Friedrichshof?
Es ist schwer, eine genaue Zahl zu nennen: Etwa 80 Kinder wurden in der Kommune geboren, die meisten im letzten Jahr, als es keine Geburtenkontrolle mehr gab. Vorher wurde ja bestimmt, welche Frauen Kinder haben durften und welche nicht.
Nur die persönlich stabilen, die frei von Depressionen waren, wie Otto Mühl es bestimmte?
Viele Frauen durften keine Kinder haben, obwohl es viel Sex gab. Man durfte also nur mit Kondom miteinander schlafen. Oder es wurde abgetrieben. Wenn eine Frau schwanger wurde, gab es eine BaG, eine Bewusstseinsarbeitsgruppe. Dieser Kreis entschied im kleinen Rahmen darüber, ob das Kind ausgetragen werden durfte.
Was widerfuhr Frauen, die trotzdem schwanger blieben?
Denen wurde kurz nach der Geburt das Kind abgenommen, das wurde dann von einer anderen Frau aufgezogen.
Anfang der Neunzigerjahre kam es zu Strafverfahren gegen Otto Mühl, wegen Unzucht mit Minderjährigen. Wie erlebten Sie die folgende Implosion der Kommune?
Eines Tages gab es die Struktur nicht mehr, wir Kinder kamen aber damit bestens klar. Es gab natürlich trotzdem noch Leute, die sagen wollten, wo es langgeht und festlegen wollten, wer was zu sagen hat. Aber uns älteren Kindern war das dann egal. Im letzten Jahr der Kommune, da war ich zwölf, fiel auch der Zwang zu den abendlichen Vorführungen weg. Wir durften dann auch mal Fernsehen oder Fußball spielen, was vorher verboten war.
Sie haben gute Erinnerungen?
Das letzte Jahr und auch die Jahre nach meiner Rückkehr mit 15 waren die schönsten. Plötzlich war der Friedrichshof ein totaler Freiraum. Wir steckten uns die Grenzen selber. Viele hatten schon Privateigentum, aber wir ignorierten die abgeschlossenen Türen und Schlösser. Wir mussten ja sehen, wo wir etwas zu essen herbekamen. Da nahmen wir uns einfach, was wir brauchten.
Die totale Kinderfreiheit, endlich war sie da?
Einerseits schon. Obwohl es auch so war, dass Kinder ohne Mütter völlig auf sich allein gestellt waren. Gerade für die Mädchen, die sexuell missbraucht worden waren, war es schlimm. Die wurden von der Polizei mitgenommen, fünf Stunden lang verhört – das war’s. Niemand fing sie auf, und zu ihren Eltern konnten sie auch nicht gehen.
Ihr Film zeigt, dass Sie Ihren biologischen Vater später kennenlernten. Er lebt auf den Kanaren, mit Frau und Sohn. Hat es Sie getroffen, dass Ihr Vater mit anderen zusammen eine Familie hat?
Nein, ich habe seine Familie sogar mit Wohlgefallen erleben können. Ich war erleichtert, dass mein Vater in der Lage ist, Vater zu sein. Dass es sich nicht um eine Art Gendefekt handelt. Zu seinem Sohn und seiner Frau habe ich ein sehr gutes Verhältnis.
Welche Rolle spielt die Kommune noch für Sie?
Wir leben in Wien, der Friedrichshof ist nur eine Stunde entfernt. Er ist jetzt eine Art Wohnpark, in dem viele junge Familien mit Kindern leben. Ich bin dort häufig, es gibt sogar zwei Kinder aus meiner Generation, die wieder hingezogen sind. Mal sehen, ob wir da manchmal hinfahren, wenn wir ein Kind haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg