Sexuelle Gewalt: Kulturgeschichte der Übergriffigkeit
Revolutionäre Bewegungen wie die Wandervögel und die 1968er begünstigten Missbrauch, schreibt der Journalist Christian Füller.
Was hat das antike Griechenland mit der Wandervogel-Bewegung, was haben alternative Kinderläden mit dem Internet gemein? Es braucht einen genauen, um nicht zu sagen einen monothematisch fokussierten Blick, um hier Verbindendes zu entdecken.
Christian Füller ist einer, der diesen Blick zu seinem Markenzeichen gemacht hat. Der Journalist und Bildungsexperte, der lange für die taz arbeitete, schreibt seit Jahren über Kindesmissbrauch, er gilt als streitbarer Experte, umstritten wegen seiner steilen Thesen.
Eine davon führte 2013 zum Zerwürfnis mit der taz: Missbrauch sei, so behauptete Füller auf dem Höhepunkt der Debatte um Pädophiliefreundlichkeit bei den Grünen, „in der grünen Ideologie angelegt“.
Die Vorliebe für kühne Thesen ist Füller, der 2011 ein Buch über die Odenwaldschule schrieb, geblieben. In seinem neuen Buch „Die Revolution missbraucht ihre Kinder“ entwirft er eine Kulturgeschichte der Übergriffigkeit.
Christian Füller: „Die Revolution missbraucht ihre Kinder“. Hanser, 288 Seiten, 21,90 Euro
Auf 288 Seiten versucht er nachzuweisen, dass Teile der bundesrepublikanischen Gesellschaft bereits seit der Wende zum 20. Jahrhundert mit pädophilen Theorien infiziert sind. Es ist seine Antwort auf die Frage „Wie konnte das passieren?“, die sich seit der Aufdeckung von Missbrauchsserien an kirchlichen und reformpädagogischen Internaten viele stellen.
Unterhaltsam wie ein Krimi
Füllers Beweisführung liest sich unterhaltsam, beinahe wie ein historischer Krimi. Zuerst nimmt er sich die Blütezeite der griechischen Kultur (etwa 470 bis 320 v. Chr.) vor. Eine zu Unrecht verklärte Epoche, wie Füller meint: Eros, der Gott der handfesten Liebe? War nie etwas anderes als kulturell verbrämte sexuelle Gewalt.
Die platonischen Gastmähler? Dort ging es keineswegs nur platonisch zu. Der „Schenkelverkehr“, vorgenommen zwischen den Schenkeln eines Schülers durch seinen Lehrer, galt als konstituierend für den „pädagogischen Eros“. Auf den sollten sich Jahrtausende später führende Protagonisten der um 1910 entstehenden Wandervogel-Bewegung und schließlich prominente Reformpädagogen berufen.
Wie wichtig päderastisches Gedankengut schon den in „Horden“ wandernden Naturfreunden war, rekonstruiert Füller minutiös. Die Wandervogelbewegung entstand um 1900 im Berliner Raum, ihr Markenzeichen waren das gemeinsame Naturerlebnis, die Freikörperkultur und eine straffe, fast militärische Gruppenorganisation.
Füller zieht nun eine Verbindungslinie von Hans Blüher (1888–1955), dem Chronisten des Wandervogels und bekennender Päderast, der 1912 mit „Der Wandervogel als erotisches Phänomen“ eine Art pädosexuelle Programmschrift verfasst hat, bis zu aktuellen Missbrauchsfällen auf dem Wandervogel-Treff Burg Balduinstein.
Bis heute habe die Bewegung diesen Teil ihres Erbes nicht aufgearbeitet, schreibt Füller: „Bei Gesprächen mit Mitgliedern bündischer Gruppen steht Pädosexualität und Missbrauch stets wie ein weißer Elefant im Raum: Alle sehen ihn, keiner wagt, darüber zu reden.“
Interessante Querverbindungen
Manche Querverbindungen, die Füller sichtbar macht, sind durchaus erhellend: Gustav Wyneken zum Beispiel. Er war Gründer der Freien Schulgemeinschaft Wickersdorf, die als erste reformpädagogische Schule Deutschlands gilt. 1921 wurde er wegen sexueller Übergriffe auf Schüler verurteilt.
Sein Verteidiger im Prozess war der Wandervogel Hans Blüher. Und Gerold Becker, der Haupttäter an der Odenwaldschule, orientierte sich stark an Wynekens Auslegung des „pädagogischen Eros“. Dass er und der zweite Haupttäter Wolfgang Held in ihrer Jugend Wandervögel-Gruppen angehörten, wundert kaum noch.
Manchmal übertreibt der Autor es mit der Beweisführung: etwa in der Auseinandersetzung mit dem Alternativmilieu. Da gelten ihm bereits Doktorspiele zwischen Kinderladenkindern als Nährboden für Missbrauch, ebenso die Strukturlosigkeit in vielen Wohngemeinschaften. Missbrauch gedeiht schließlich auch im autoritären Klima kirchlicher Einrichtungen – der Kirche allerdings widmet Füller gerade mal zwei Seiten.
Dort, wo er unbedingt beweisen will, dass die Post-68er Dreck am Stecken haben, kann man ihm mitunter nicht ganz folgen. Präziser wird er bei den Grünen. Die These, dass pädophile Positionen fest in Weltanschauung und Parteistruktur verankert waren, kann er mit einigen neuen Details belegen.
Die Indianerkommune, eine radikale, altersgemischte Gruppe aus Nürnberg, die für Konsumverzicht und „einvernehmlichen Sex“ zwischen Erwachsenen und Kindern eintrat, war keineswegs nur lästige Randerscheinung bei grünen Parteitagen.
„Grüne Sturmtruppe“
Füller nennt sie „grüne Sturmtruppe“. Und weist nach, dass die Indianer fest verbunden waren mit grünen Spitzenpolitikern wie dem bekennenden Pädosexuellen Hermann Meer und dem pädosexuellen „Kinderrechtler“ Werner Vogel. Der organisierte 1983 in der christlich-alternativen „Dachsberg“-Kommune am Niederrhein einen grünen Kinder-und Jugendkongress. Hauptdiskussionspunkt: „Sex“ mit Kindern.
Der Dachsberg war, wie man heute weiß, ein Ort des ritualisierten Missbrauchs. Und Vogel, das weist Füller nach, ging nicht nur dort ein und aus, sondern auch bei den Indianern, für die er sich in der Partei wiederholt einsetzte.
Vogels Wohnung in Mettmann war in der „Ausreißerkartei“ der Indianer verzeichnet: eine Adressensammlung für jugendliche Ausreißer, die mit rund 2.000 Schlafgelegenheiten auch als Verteilsystem für Pädophile galt. Füller zitiert eine ehemalige Ausreißerin, die von nächtlichen Fummeleien des Politikers berichtet.
Die alten Griechen – ein Volk von Päderasten. Die Wandervögel, die Grün-Alternativen, Teile der Kulturproduktion (ja, auch die Fälle Pola Kinski und Eva Ionesco kommen vor) Horte des Kindesmissbrauchs. Wer Füllers Buch in einem Rutsch liest, hat das Gefühl, in einer pädophil durchwirkten Gesellschaft zu leben.
Das letzte Kapitel über die Abgründe des Internets macht dieses Gefühl nicht besser. „Die Missbrauchsideologie ist nahtlos in die Idee des freien Internets eingewoben“, schreibt Füller und warnt vor einer Gesellschaft, die der digitalen Gefahr rat-und hilflos gegenüberstehe. Bisweilen ist das schriller Alarmismus. Als kulturgeschichtlicher Gedankenanstoß aber ist „Die Revolution missbraucht ihre Kinder“ durchaus lesenswert.
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