Sexualisierte Gewalt im Erzbistum Berlin: Laiengremium stellt Machtfrage

Das Erzbistum veröffentlicht Details zu Fällen sexualisierter Gewalt. Bischof Koch wird zum Handeln ermahnt. Auch Vorgänger Woelki spielt eine Rolle.

Protestierende vor Woelkis Wohnhaus fordern mit pinken Pappkreuzen Aufklärung der Missbrauchsfälle

Protestierende vor Woelkis Wohnhaus in Köln fordern Aufklärung der Missbrauchsfälle Foto: Roberto Pfeil/dpa

BERLIN taz | Lai­en­ver­tre­te­r*in­nen in Berlin und Köln mahnen ein Handeln bei der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche an. Nachdem das Erzbistum Berlin am Freitag weitere Einzelheiten zu Vorfällen in seinem Bereich veröffentlicht hatte, fordert der Diözesanrat – das höchste Laiengremium des Bistums – einen Maßnahmenplan „mit Meilensteinen und Zielvorgaben“ bis zum Ende des Sommers. „Neben Machtstrukturen müssen weitere bereits bekannte Risikofaktoren angegangen und verändert werden“, sagte Diözesanrätin Johanna Jungbluth der taz.

Auch der umstrittene Bischof Rainer Maria Woelki findet Erwähnung in dem am Freitag veröffentlichten Teil C eines Gutachtens mit dem Titel „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich des Erzbistums Berlin seit 1946“. Woelki leitete 2011-2014 das Berliner Erzbistum.

Die Teile A und B des Papiers waren bereits Ende Januar veröffentlicht worden. Mehr als 400 Seiten kamen nun am Freitag hinzu. Insgesamt umfasst das Gutachten etwa 670 Seiten. Fragen des Persönlichkeits- und Datenschutzes sollten vor der Veröffentlichung des C-Teils geklärt werden, sagte ein Bistumssprecher am Freitag.

Auch im jetzt auf der Homepage des Erzbistums veröffentlichten Gutachten sind manche Namen geschwärzt. Dies sei geschehen, um Rückschlüsse auf einzelne Betroffene unmöglich zu machen, sagte Johanna Jungbluth der taz. In einem kleinen Bistum wie Berlin sei dieser Persönlichkeitsschutz besonders wichtig. Jungbluth ist Vorsitzende des Bunds der deutschen katholischen Jugend in der Berliner Diözese, die die Bundeshauptstadt sowie große Teile Brandenburgs und Vorpommerns umfasst. In dieser Funktion sitzt sie im Laienrat des Bistums.

Kommission soll über weiteres Vorgehen entscheiden

„Wir haben als Diözesanrat seit Januar die vollständige Veröffentlichung gefordert. Das ist wichtig für die historische Aufklärung und für die Betroffenen“, sagt Jungbluth. Zusammen mit zwei weiteren Lai­en­ver­tre­te­r*in­nen und drei Priestern gehört sie der Kommission an, die nun das Gutachten bewerten und Handlungsempfehlungen abgeben soll.

Über Maßnahmen entscheiden wird am Ende aber Erzbischof Heiner Koch, in seiner Funktion als Bistumsleitung. Dieser will sich am Dienstag in einem Youtube-Stream der Diskussion stellen. Danach gefragt, wie sie den Aufarbeitungswillen des Berliner Bischofs beurteile, gab Jungbluth an, dass alle in der Bistumsleitung die Bedeutung des Themas verstanden hätten.

Das Berliner Gutachten beschäftigt sich mit den im Januar bekannt gewordenen 121 Fällen von betroffenen Kindern und Jugendlichen und mit 61 beschuldigten Mitarbeitenden des Erzbistums Berlin. Die meisten Vergehen fanden demnach in den 1950er- und 1960er-Jahren statt. In 49 Fällen handelte es sich um sexualisierte Gewalt an Minderjährigen. Die Gut­ach­te­r*in­nen gehen von einer zusätzlichen Dunkelziffer aus. Im Umgang mit den an die Öffentlichkeit gelangten Fällen stellen sie sieben Verstöße gegen die Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz fest: Informationen wurden nicht korrekt weitergegeben, Beschuldigte nicht mit Vorwürfen konfrontiert, zu Betroffenen kein Kontakt aufgenommen.

Die Fälle am Berliner Canisius-Kolleg, deren Öffentlichwerden 2010 weithin als Wendepunkt im kirchlichen Umgang mit sexualisierter Gewalt gilt, umfasst das Gutachten nicht. Die Akten der Beschuldigten liegen beim Jesuitenorden und nicht beim untersuchten Erzbistum. Matthias Katsch, ehemaliger Schüler am Canisius-Kolleg und Sprecher der Betroffenen-Initiative „Eckiger Tisch“ bezeichnete die „kommentarlose Veröffentlichung“ des Gutachtens am Freitag als „etwas seltsam“. Das zeige, wie schwer den Verantwortlichen der Umgang mit Opfern und Aufarbeitung falle, sagte er der KNA.

„Im Gutachten selbst stehen schon Empfehlungen, die es jetzt strukturiert umzusetzen gilt“, sagt wiederum Johanna Jungbluth. Dazu gehört unter anderem die Empfehlung, die interne Organisationstruktur sowie die Aktenführung zu verbessern. Außerdem soll die Personalauswahl des Priesternachwuchses und des Leitungspersonals professionalisiert und die Zusammenarbeit mit den staatlichen Strafbehörden gestärkt werden. Außerdem gelte es, die Empathie mit Betroffenen zu stärken und Gesprächsmöglichkeiten zu eröffnen.

Der Kommunions- und Firmunterricht sollte verbessert werden. „Dass überhaupt – so wie den untersuchten Akten zu entnehmen – Kinder und Jugendliche von Erwachsenen im Rahmen der Beichtvorbereitung oder gar der Beichte selbst auf Fragen der ‚Keuschheit‘ und auf ihre eigene Sexualität angesprochen und befragt werden, stellt nach unserer Auffassung in jedem Fall einen nicht tolerierbaren Übergriff dar“, schreiben die Gutachter*innen.

Woelki nicht mehr tragbar

In Bezug auf den heutigen Erzbischof von Köln, Rainer Maria Woelki, bringen die Gut­ach­te­r*in­nen ihre Verwunderung über die Einstellung eines kirchlichen Vorermittlungsverfahrens zum Ausdruck, die aus den Akten nicht zu erklären sei. Der damalige Berliner Bischof Woelki verteidigt diese Entscheidung in einer beigefügten Stellungnahme.

Woelki steht in seinem jetzigen Bistum Köln wegen Vertuschungsvorwürfen und mangelnder Aufarbeitung massiv unter Druck. Die Laienbewegung „Wir sind Kirche“ forderte nach dem Besuch zweier päpstlicher Gutachter in Köln den Rücktritt des Bischofs. Die Initiative teilte am Freitag mit, dass es „unabsehbare Erschütterungen nicht nur im Erzbistum Köln, sondern in der gesamten Kirche in Deutschland wie auch in der Öffentlichkeit“ hervorrufen würde, sollte Papst Franziskus den Kölner Erzbischof nach der „Apostolischen Visitation“ im Amt belassen.

Vom Diözesanrat in Köln hieß es am Freitag: „Mit Kardinal Woelki haben wir jetzt einen toten Punkt erreicht. Wir nehmen mit Bitterkeit wahr, dass wir nicht mehr weiterkommen. Die Kräfte aller Beteiligter sind am Ende. Unser Bistum muss wiederbelebt werden.“ Der Vorsitzende des Diözesanrates, der Solinger Oberbürgermeister Tim Kurzbach (SPD), hielt Woelki vor, dass dieser seit Jahren nicht mehr an den Versammlungen des Diözesanrats teilgenommen habe.

„Es gibt Widersprüche und konträre Positionen, und wir müssen mit diesen Spannungen leben“, sagte Woelki in Reaktion auf die Vorwürfe am Freitagabend. „Deshalb müssen wir aufeinander zugehen, in kleinen Schritten.“

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