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Sex und Substitutionsdrogen

Zehn Jahre nach Mauerfall und Erwachsenwerden will Leander Haußmann mit seinem Filmdebüt „Sonnenallee“ seine Jugend in Ostberlin endlich auch mal so sehen, wie jeder seine Jugend will: cool, bunt und lustig. Endlich Schluss mit Grau! DDR in Farbe!  ■   Von Christiane Kühl

Erinnern ist das Gegenteil von Merken, sagt Thomas Brussig. „Sonnenallee“ ist ein Erinnerungsfilm. Nichts für Aufmerker.

Ein weißer Fleck auf der Landkarte wäre schon zu viel behauptet. Rückblickend ist man natürlich geneigt, von einem grauen Fleck zu sprechen, aber das wäre erfunden. Für junge Westdeutsche, die zur Zeit des Prager Frühlings so um die Einschulung standen, war die Deutsche Demokratische Republik schlicht nicht vorhanden. Sie musste nicht einmal von der mental map radiert werden; sie lag außerhalb des Bezugssystems. Erwachsenwerden hieß selbstredend, die Welt zu erobern, und Welt, das waren Feten, Turnschuhe und Zigaretten in Fahrradkellern. Ferienmäßig wuchs sich der Horizont gerade von den nordfriesischen Inseln nach Ibiza aus. Musikalisch, und das hieß bald auch politisch, war das Universum nach dem Urknall eingleisig Richtung Großbritannien und USA gewachsen.

Junge Westdeutsche in den Siebziger- und frühen Achtzigerjahren haben sich nicht als solche verstanden. Es gab keinen Anlass, sich vom Osten abzugrenzen – wenn man sich von etwas abgrenzen wollte, dann war es das Deutschsein. Dass es eine DDR gab, war denen präsent, die dort Verwandte hatten, aber das waren in Kiel, Düsseldorf und Freiburg ziemlich wenige. Einige lernten es durch die obligatorische Klassenreise nach Berlin, wo ein Tag „Hauptstadt der DDR“ auf dem Programm stand. Wer von dort zurückkam, wusste vor allem eins zu berichten, und das war dasselbe, was jeden Bericht neugieriger Neugesamtdeutscher nach 89 dominierte: dass es dort verdammt grau ist. Die DDR war grau. Graue Mauern, graue Straßen, graue Luft, aschfahle Gesichter. Immer wieder derselbe Satz, manchmal ein Zusatz: Man hat da das Gefühl, durch einen 50er-Jahre-Schwarzweißfilm zu fahren.

Leander Haußmann hat einen Farbfilm gedreht. Über die DDR. Die DDR leuchtet. Nie waren Partykellerwände blutroter, Zeitungskioske gelber, Fingerfarben auf nackten Körpern blauer als in der „Sonnenallee“. Ziemlich sexy alles. Und da, wo wir es mit beigen Hemden, verwaschenen Jeans und Kilometern von braunen Teppichen, Lampen und Holzfurnierschrankwänden zu tun haben, kann die DDR auch nichts dafür: Hey, dies sind die Siebziger. Wandpostertapeten ruled the world überall.

Was er „dem Osten im Nachhinein am wenigsten verzeihen kann“, sagt Haußmann heute, sei, „dass er mich nicht gezwungen hat, eine Fremdsprache zu lernen“. In jener Hälfte Deutschlands, in der er groß wurde, wollte man als Jugendlicher die andere Hälfte und alles, was sich aus dem weiteren Westen darüberschob, keinesfalls ignorieren. Eine Vier in Russisch auf der Rudi-Arndt-Berufsschule zählte nicht als Fremdsprache, obwohl sie auch was wert war: Schlechte Rudi-Arndt-Schüler bildeten „die subversivste Vereinigung, die es gab“, und deswegen waren die hier verbrachten Jahre „auch wirklich meine wichtigste und schönste Zeit“. Von seinem 16. bis 19. Lebensjahr lernte der Friedrichshagener dort Drucker und jagte das Neue Deutschland durch die Rotationsmaschinen. Anschließend ging es alternativlos zur Armee, und dann blieben immer noch neun Jahre, bis die Mauer fiel. Das wiederum war weiter nicht schlimm, denn „die DDR war die totale Hippie-Republik, wir haben auf Matratzen gelegen und gesoffen und uns ständig krankschreiben lassen“.

Diesen Satz hat vor etwa drei Jahren Thomas Brussig gelesen, und er fand ihn so „unverkrampft“, dass er sofort wusste, Haußmann, seit 1995 Intendant des Bochumer Schauspielhauses, ist der richtige Regisseur für seinen Stoff vom „kürzeren Ende der Sonnenallee“. Nicht nur ästhetisch, auch biografisch wollte der „Helden wie wir“-Autor das Mauerstück bereichert wissen. Brussig nämlich hat seine frühe Adoleszenz recht verschieden vom späteren Hugo-Boss-Modell Haußmann verbracht: Während letzterer also auf Matratzen abhing und sich mit einem Faustan-Cola-Gemisch außer Gefecht setzte, engagierte sich der sechs Jahre jüngere Baufacharbeiter als GOL-Agitator. Er lud Gäste zu FDJ-Versammlungen und gab einmal monatlich, meistens mittwochs, Politinformation im Unterricht. „GOL“ steht für „Grundorganisationsleiter“ und gehört mit „Eingabe“ und „Schulspeisung“ zu jenem Teil des einst real existierenden Wortschatzes, der fast so gründlich wie die Zwei-Takt-Motoren aus der vereinigten Geräuschkulisse verschwand. „Das, was nicht so schön war, vergisst man“, erklärt Brussig: „Erinnern ist doch das Gegenteil von Merken.“

„Sonnenallee“ ist ein Erinnerungsfilm. Micha (Alexander Scheer), so einer mit dünnen Haaren und der Statur eines Herings, erinnert sich an die schönste Zeit seines Lebens: Das war, wie er uns aus dem Off mitteilt, als er jung war und verliebt. Dafür, dass er diese Zeit am kürzeren Teil der Sonnenallee verbracht hat, jenem Abschnitt, der auf der Ostseite dieser Berliner Straße lag, kann er nichts. Es war aber auch nicht sein größtes Problem. Zwar stellt man sich mit 17 in den Siebzigern, wenn man wie 90 Prozent aller Jungs Popstar werden will, das Leben im Westen einfacher vor, aber das einzige, was Micha wirklich zu schaffen macht, ist Miriam. Miriam (Teresa Weißbach) ist die Schönste. Auf der Schule und der ganzen Welt sowieso. Hier liegt das Problem und das einzige Ost-West-Konfliktpotenzial: Ständig kommt so ein blöder Schnösel mit neuen Autos durch den antifaschistischen Schutzwall und küsst dieses ätherische Wesen, das der Zuschauer, damit gar nicht erst Missverständnisse aufkommen, nur mit Weichzeichner zu sehen bekommt.

Micha und seine Gang leben tagsüber bei den Eltern (Katharina Thalbach und Henry Hübchen) und Besuchswestonkel (Ignaz Kirchner) in spießigen Bruchbuden mit Multifunktionstisch und ab dem Spätnachmittag auf dem Kletterpilz, wo mit Vorliebe frisch überspielte, verbotene Rock- und Popsongs gehört werden. Satisfaction gibt es nicht. Telefone auch nicht. Dafür jede Menge Spaß. Dekadenten Bustouristen kann man lustig mit eingezogenen Wangen „Hunger! Hunger!“ hinterherrufen und sonnigen Westlern, die vom Aussichtsturm „Huhu, Ossi! Wo kriegt man denn die freakigen Sachen her?“ rüberrufen, kann man ganz freakig mitteilen, dass man sie eines nicht so fernen Tages alle abknallen wird. Und als ein Mitarbeiter des Staatsministeriums des Inneren Micha und seinen Freund Mario (Alexander Beyer) mit der Feindpresse konfrontiert, die die beiden vom Balkon auf die Mauer pissend zeigt, macht das das Leben nur angenehmer: Mario, der von der Schule fliegt, kann endlich den ganzen Tag mit seiner Existenzialisten-Freundin Hesses metaphysischen Kleinmüll diskreditieren. Wichtig ist, was um das Pinkeln herum stattfand: die Megaparty. Sex and Schwarzkopien und Substitutionsdrogen. Der Osten, brüllt der Farbfilm, das war eine ganz große, abgefahrene Orgie.

Leander Haußmann und Thomas Brussig haben einen Erinnerungsfilm gemacht, keinen Merkfilm. Das werden ihnen die Aufmerker der Republik natürlich nicht verzeihen. Schon fühlt sich das Berliner Stadtmagazin tip an die „Muffigkeit nationalsozialistischer Lustspielfilme“ erinnert, und der Film Dienst wirft ihnen „Geschichtsrecycling im Zeitalter der Eventkultur“ im Ritt auf der Ostalgie-Welle vor – ganz so, als dürfe Kino mit Entertainment nichts zu tun haben. Dass der Start von Haußmanns Regiedebüt am 7. Oktober, dem 50. Gründungstag der DDR, nebst Brussigs flankierendem Kampfschrei „Die Filmschaffenden der DDR bündeln ihre Kräfte und präsentieren der Republik ein Geburtstagsgeschenk!“ unter Umständen neben fröhlichem Trotz auch mit Ironie zu tun haben könnte, lässt sich mit dem deutschen Hang zur Historienwacht nicht überall vereinbaren.

Dabei ist das gar nicht so schwer zu erkennen. Der Film, der sich im übrigen Burleske und nicht Dokumentation nennt, behauptet an keiner Stelle, objektive Vergangenheitsaufarbeitung zu bieten. Auf 7.000 Quadratmetern wurde von Lothar Holler in Babelsberg ein Stück Ostberlin nachgebaut, das bei aller Detailtreue permanent seine Pappnatur ausstellt. Die Atmo und die theatralische Inszenierung atmen förmlich zwischen besserem Fernsehspiel und 60er-Jahre-Kino, und zwar so asthmatisch, dass der Retro-Glorifizierungsvorwurf weggehustet wird. Hier mault keine PDS, dass früher die Welt eine bessere war und man sein Stückchen wiederhaben will. Das grandiose Saturday-Night-Fever in der blutroten Schuldisko konkurriert nicht mit Travolta, sondern gibt zu verstehen, dass die Macher auch „Pulp Fiction“ gesehen haben. Von den klamaukigen Heimatfilmszenen am stets kollabierenden Multifunktionstisch bis zum „Hair“-kreischenden Ende sagt der Film vor allem eins: Können wir auch. Hatten wir auch. Anders, aber im Mikrokosmos nicht schlechter. Eine ganze Jugend lang haben wir euch beneidet, aber jetzt kannst du mal staunen, Wessi. Alles ganz schön bunt hier, wa!

Zehn Jahre nach Mauerfall kommt so die erste Mauer-Farce in die Kinos, gefördert mit dem bestdotierten deutschen Drehbuchpreis und produziert von Detlef Buck. Ostdeutsche Zuschauer können eine Menge Plaste- und Elaste-Inventar wiedersehen, westdeutsch sozialisierte eine Hand voll peinlichen kapitalistischen Gutmeinens, beide eine dialogisch fein aufbereitete Ladung trashgetränkter deutscher Borniertheit. Dass viele Reminiszenzen visuell und akustisch beiläufig aufflackern, ist ein Vorteil des Films gegenüber dem kürzlich erschienenen Erzählband Brussigs; die Episoden sind aufgebrochen und über Schnitt und vor allem die Musik wesentlich dynamischer miteinander verbunden. Selbst wenn die Dresdner Jugendfreunde eine Nacht lang Westtestbild glotzen.

Haußmann und Brussig wollten erklärtermaßen nicht der DDR, sondern dem eigenen Erwachsenwerden ein Museum bauen. So simpel ist die Sache natürlich nicht. Zehn Jahre später ist „Sonnenallee“ ein Film darüber, wie sie zehn Jahre später beides gern gehabt hätten. Mit Miriam, „Exile on Main Street“, renitentem Tagebuch und extrem in Farbe. Die jugendlichen Helden springen vom Balkon, sterben nicht, die Fee hat gewartet, und das Arbeiter-und-Bauern-Volk nimmt im Hippie-Tanzschritt sanft die Grenze. So schön hätte das sein können. Aber da dreht Haußmann mit Michas sentimentaler Off-Stimme flink die hübsche Farbe aus dem Film. Und dann liegt sie wieder ganz leer und dumpf da, die DDR, fast so, wie sie immer erinnert wurde: grau.

„Sonnenallee“, Regie: Leander Haußmann, Buch: Thomas Brussig/Haußmann, mit Alexander Scheer, Alexander Beyer, Robert Stadlober, Teresa Weißbach u. a., D 1999, 101 Min.

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