Serie Flüchtlingsleben (III): Unerwünscht gleich unversorgt
Wer ohne Papiere in Deutschland lebt, sollte besser nicht krank werden. Denn obwohl jedem Menschen rein rechtlich die medizinische Grundversorgung zusteht, bliebe ihnen ohne Ehrenamtliche oft jede Hilfe verwehrt. Teil III der taz.nord-Serie über das Leben von Flüchtlingen.
HAMBURG taz | Sitha Schwarzer wird Ärztin werden, sie ist mit ihrer Ausbildung fast fertig und kennt den Alltag in der Klinik. "Hier ein MRT, dort ein Blutbild - das geht zack, zack", sagt sie. Und nicht immer wird lange nachgedacht, ob das jetzt wirklich notwendig oder bloße Routine ist. "Und dann sitzt man hier, jemand hat einen dicken Tumor im Bauch, und kein Mensch möchte ihn behandeln."
Hier, das ist das Hamburger Büro für medizinische Flüchtlingshilfe - kurz Medibüro. Ein runder Kieferntisch füllt den halben Raum aus, mit den weißen Raufaserwänden und dem blauen Teppich. Sonst gibt es nur noch eine selten genutzte Behandlungsliege, ein Telefon und einen Karteikasten mit den Patientenkarten nach Fachrichtung sortiert - von Chirurgie über Naturheilkunde bis Zahnarzt.
Heute ist keine Sprechstunde, die Stühle auf dem Flur vor dem kleinen Beratungszimmer sind leer. An den Beratungstagen kann es aber schon mal eng werden, pro Woche kommen 25 bis 40 Menschen in die beiden jeweils dreistündigen Beratungstermine - Schwangere, Diabetiker, Menschen mit chronischen Schmerzen, Patienten nach einem Schlaganfall, traumatisierte Flüchtlinge, Krebspatienten oder Kinder, deren Eltern ohne Papiere hier leben. Die Liste der Beschwerden ist lang.
Gemeinsam haben sie, dass sie keine Krankenversicherung haben, sich die Behandlungskosten nicht leisten können, und dass das Sozialamt höchstens die Kosten für die medizinische Versorgung im Notfall übernimmt. Es kann Monate dauern, ehe ein solch eventueller Rechtsanspruch geklärt ist. Aber viele Erkrankungen lassen einen solchen Aufschub nicht zu, können chronisch werden und sich weiter verschlimmern. Ehrenamtliche wie Schwarzer vermitteln die Patienten weiter zu Ärzten, verhandeln vergünstigte Konditionen und geben ihnen als Ersatz für die fehlende Krankenkassenkarte einen Brief mit, der dem Arzt zusichert: Das Medibüro wird für Kosten bis zu 75 Euro aufkommen.
Schwarzer ist eine von etwa 25 Ehrenamtlichen des Medibüros Hamburg, gegründet 1994. Die 26-Jährige absolviert gerade ihr Praktisches Jahr. Es war 2007, sie studierte noch in Göttingen, als eine Freundin ihr erzählte, dass allein in Göttingen geschätzte 400 Menschen ohne Papiere leben und keinen Zugang zu medizinischer Versorgung haben. "Das hat mich schockiert", sagt Schwarzer. Sie begann, für das dortige Medibüro zu arbeiten. Als sie nach Hamburg zog, machte sie hier weiter. Sie traf Christine Wiedemann, die seit 3,5 Jahren für das Medibüro arbeitet.
"Medizinische Versorgung ist ein Grundrecht, und jeder muss angstfrei ins Krankenhaus gehen können", sagt die 36-jährige Wiedemann. Sie arbeitet schon lange als Krankenschwester, einige Jahre war sie in der ambulanten Pflege. Sie nennt es einen menschenrechtlichen Skandal, dass nicht jeder Zugang zu diesem System hat. "Es ist schwer, mit anzusehen, wie unversorgt gerade Menschen sind, die hier ohne Papiere alt und chronisch krank werden." Oft verlieren sie ihren Arbeitsplatz, sagt sie, ihr Einkommen, möglicherweise die Wohnung und manchmal werden sie am Ende ausgewiesen. Obwohl sie monatelang Atteste von Ärzten zusammengetragen hat. "Das kann schon sehr frustrierend sein", sagt Wiedemann.
Rechtlich fallen Flüchtlinge unter das Asylbewerberleistungsgesetz und haben danach Zugang zu medizinischer Grundversorgung - im Notfall dürfen auch Menschen ohne Papiere nicht abgewiesen werden. Das ist aber oft nur Theorie. Denn viele hält die finanzielle Belastung von einem Arztbesuch ab, andere fürchten, dass ihr illegaler Aufenthaltsstatus aufgedeckt werden könnte und sie abgeschoben werden.
Ein wenig besser wurde es im Herbst 2009, mit der sogenannten verlängerten Schweigepflicht. Vorher hatten zwar Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus im Fall einer akuten oder schmerzhaften Erkrankung ein Anrecht auf medizinische Behandlung. Die Krankenhäuser mussten aber zunächst beim Sozialamt einen Krankenschein beantragen - und waren wiederum verpflichtet, die Patientendaten an die zuständige Ausländerbehörde weiterzuleiten. Jetzt müssen sie eben das nicht mehr tun. "Es läuft im Krankenhaus manchmal dennoch katastrophal", sagt Schwarzer. "Da kommt schon mal die Polizei und macht eine Identitätsprüfung, wenn nicht klar ist, wer dort im Bett liegt und wie die Rechnung bezahlt werden soll."
Von einer adäquaten Versorgung ist man weit entfernt. Die Menschen brauchen nicht nur Notfallbehandlung, sondern Augenarzt, Zahnarzt, Gynäkologen, Physiotherapeuten, Psychiater. Zu diesen Fachärzten ist der Zugang aber verwehrt, außer er wird über Orte wie das Medibüro organisiert. Und hier muss man nehmen, was kommt. Da müssen die Menschen im Zweifel einen Arzt aufsuchen, der ihre Sprache nicht spricht.
"Es kommt auch vor, dass eine Mutter mit ihrem Kind erst mal 1,5 Stunden durch die Stadt fahren muss, weil die engagierte Ärztin, die kostenlos arbeitet, leider am Stadtrand sitzt", sagt Wiedemann. Zwar hätten sie hier in Hamburg mittlerweile ein Netzwerk von rund 150 Medizinern, Hebammen und Therapeuten, aber in manchen Stadtteilen gebe es noch immer niemanden und bei bestimmten Fachrichtungen, bei denen es mit einem Arztbesuch nicht getan ist, wird es schnell eng. Gerade an Gynäkologen, Psychiatern oder Physiotherapeuten mangele es ständig.
Das Medibüro finanziert sich vollständig über Spenden. Ein Problem, sagt Schwarzer, denn die medizinische Versorgung darf nicht davon abhängen, ob gerade Geld im Topf ist. Es kommt vor, dass die Kasse monatelang leer ist, und wenn in dieser Zeit eine dringende Operation für 3.000 Euro ansteht, muss man so lange herumtelefonieren, bis irgendjemand sich bereit erklärt, Geld zur Verfügung zu stellen oder die Behandlung günstiger oder kostenlos zu übernehmen.
Aber es kommt sehr regelmäßig vor, dass sie passen müssen, nicht bezahlen können. "Das kann so nicht richtig sein und es muss dringend eine andere Lösung her", sagt Schwarzer. Stattdessen passiert es, dass Gesundheits- oder Jugendamt um Unterstützung bitten, weil es einfach für Menschen ohne Papiere keine andere Möglichkeit abseits der ehrenamtlichen Helfer gibt. "Es geht so weit, dass sie uns anrufen und sagen, wir haben hier unterversorgte Menschen, ob wir da nicht was machen können", sagt Wiedemann. "So wollen wir unsere ehrenamtliche Arbeit nicht instrumentalisieren lassen, wir sind ein Provisorium und müssen es bleiben."
Das Medibüro spricht sich als Alternative für den anonymen Krankenschein aus, wie er beispielsweise in Amsterdam bereits genutzt wird. Die Menschen ohne Papiere müssen hier ihre Identität nicht preisgeben und können behandelt werden, ohne dass sie Angst vor einer Abschiebung haben müssen. Außerdem bekommt der behandelnde Arzt ein Honorar. Eine konstante Versorgung wäre so gewährleistet, ohne auf Spenden und ehrenamtliche Helfer angewiesen zu sein. Über eine sogenannte Clearingstelle könnten die Krankenscheine ausgegeben werden.
Das Konzept der Clearingstelle wurde in Hamburg lange diskutiert, unter anderem saßen auch Mitarbeiter vom Medibüro mit in den entsprechenden Gremien. Und im September 2010 gaben CDU und GAL bekannt, dass sie 500.000 Euro für das Projekt Clearingstelle bereitstellen wollen. Kurz danach trat Ole von Beust zurück. "Seither wissen wir nicht, wohin die Reise geht", sagt Wiedemann. Die Sozialbehörde hat die weitere Planung in die Hand genommen und wer weiß, vielleicht komme ja etwas Positives dabei heraus. "Unser hehres Ziel bleibt es jedenfalls, uns überflüssig zu machen."
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