Serbiens Textilindustrie in der Krise: Wenn Arbeiter zu Kannibalen werden

Weil selbst Hungerstreiks niemanden mehr beeindrucken, greifen entlassene Textilarbeiter in Serbien zu so drastischen Maßnahmen wie Selbstverstümmelung.

Zoran Bulatovic hat sich mit seinen Kollegen in der Zentrale des Verbandes der Textilarbeiter verschanzt. Nun ist er als "Fingerfresser" in ganz Serbien bekannt. Bild: samir delic

NOVI PAZAR taz Zoran Bulatovic ist seit Tagen in aller Munde. Er ist der Mann, der sich den Finger abgehackt und vor laufenden Kameras verzehrt hat. Über Nacht ist der Fünfzigjährige in Serbien ein Superstar der Verzweifelten geworden, ein Symbol ihrer Hoffnungslosigkeit.

Zoran Bulatovic ist Vorsitzender des unabhängigen Verbandes der Textilarbeiter in Novi Pazar. Novi Pazar liegt in der historischen Provinz Sandschak im Südwesten Serbiens, unweit der Grenze zum Kosovo. Hier konzentrierte sich einst die jugoslawische Textilindustrie. Vor zwei Wochen ist Bulatovic mit einigen Kollegen in den Hungerstreik getreten und hat sich in den Verbandsräumen im Zentrum der Stadt verbarrikadiert. An der Tür stehen die Forderungen der ehemaligen Arbeiter der Textilfabrik "Raska": Auszahlung aller Gehälter, die sie seit 1993 nicht erhalten haben, Aushandlung eines Sozialplans. Vor der Tür ist ein Gitter. Niemand darf heraus, niemand wird hineingelassen zu den Hungerstreikenden, von denen niemand Notiz nahm, bis Bulatovic öffentlichkeitswirksam zum Messer griff.

"Ich bin kein Kannibale, ich bin nicht verrückt. Ich wusste nur nicht mehr, was wir tun sollen", sagt der blasse, unrasierte und sichtlich erschöpfte Mann durch das heruntergelassene Gitter zur taz. Er spreche im Namen von 1.400 Textilarbeitern, von denen die Hälfte nicht mal eine Krankenversicherung hätte. Die Textilarbeiter von Novi Pazar haben es schon mit Protesten und Hungerstreiks versucht, haben Molotowcocktails in der Hand gehalten und gedroht, sich zu verbrennen. Es hat nichts genutzt. Die serbische Gesellschaft sei einfach vom Leid abgestumpft, sagt Bulatovic.

Sein Betrieb, "Raska", war vor rund dreißig Jahren der größte Textil- und Konfektionsexporteur des ehemaligen Jugoslawien. Anfang der 1990er Jahre wurde die Fabrik mitten im Krieg privatisiert, geriet in die Hände der Milosovic-Clique, wechselte mehrfach den Eigentümer, verschuldete sich immer weiter, bis von ehemals 4.000 Arbeitern nur noch knapp einhundert beschäftigt blieben. Eine wirre Geschichte wilder Privatisierung, typisch für das zerfallene Jugoslawien, typisch für den Transitionsprozeß. Viele Arbeiter bekamen jahrelang weder ihr Gehalt noch eine Altersversicherung ausgezahlt, bevor sie gefeuert wurden. Nun soll die Gemeinde Novi Pazar laut Medienberichten neuer Eigentümer der Fabrik werden, die Produktion ankurbeln, der Staat soll die Schulden abschreiben und die Arbeiter auszahlen.

Dauernd kommen Gruppen von Arbeitern im Büro des verbarrikadierten Textilarbeiterverbandes vorbei. Sie suchen Rat bei Bulatovic, er gibt ihnen Anweisungen, sagt, sie sollten sich noch gedulden. Doch Glauben schenkt Bulatovic weder den Gewerkschaften - die seien "korrumpiert" - noch der Regierung. Zu oft hätten die Behörden die Arbeiter übers Ohr gehauen. Deshalb befinden sich Bulatovic' Kollegen immer noch im Hungerstreik. Im Gegensatz zum ihm: "Ich hatte ja eine Mahlzeit, nämlich meinen Finger".

"Wir sind alle bereit, bis zum bitteren Ende zu gehen", sagt Bulatovic im Brustton der Verzweiflung. Er wirkt glaubhaft. Er selbst sei bereit, "denen in Belgrad" seinen abgehackten Arm zu schicken, wenn man die Forderungen "seiner" Textilarbeiter nicht erfülle. In ihrem kleinen Raum glauben Bulatovic und seine Genossen, dass die Welt begonnen hat, sich um sie zu drehen.

Nicht ganz zu Unrecht. Der "Fingerfresser", wie ihn einige serbische Medien bezeichnen, ist ein Albtraum für die Regierung in Belgrad geworden. Wenn sie hart bleibt, droht den Menschen, die einer Art Wahn und kollektiven Selbstzerstörung verfallen sind, der Tod. Gibt die Regierung aber nach, könnten bei einer landesweiten Arbeitslosigkeit von 20 Prozent auch andere verzweifelte Menschen auf die Idee kommen, mit Selbstverstümmelung oder anderen radikalen Methoden für ihre Rechte zu kämpfen. Wie es auch schon die Arbeiter der Lederfabrik "Partizan" in der Industriestadt Kragujevac tun, die seit zwei Wochen nichts gegessen haben, sich in einem sehr schlechten Zustand befinden und mit dem Hungertod drohen.

Ihre Forderungen sind ganz ähnlich wie die der Textilarbeiter in Novi Pazar, wo neben dem Werk Raska drei weitere große Fabriken bankrott sind. Der serbische Arbeits- und Sozialminister, Rasim Ljajic, der selbst aus Novi Pazar stammt, rennt von einem Protest zum anderen und fleht die Leute an, ihr Leben nicht in Gefahr zu bringen. Er will einen Krisenstab einrichten, der vorbeugend mit Arbeitern reden und sie von Protestaktionen abbringen soll. Denn bei rund 60.000 insolventen Betrieben und einer Million gefährdeter Arbeitsplätze droht Serbien eine soziale Katastrophe.

"Momentan hat es keinen Sinn, Streiks zu organisieren", behauptet Dzemo Graco, regionaler Präsident der Assoziation freier und unabhängiger Gewerkschaften Serbiens ASNS, die rund 200.000 Mitglieder zählt. Die Staatskasse sei nämlich ebenso leer wie die der Gewerkschaften. Graco verurteilt die Methoden von Bulatovic, auch wenn er Verständnis für die hunderttausende Arbeiter hat, die Opfer der wilden Privatisierung geworden sind. In der aktuellen Wirtschaftskrise setzt sich die ASNS für die Zusammenarbeit mit der Regierung ein. Andere Gewerkschaften sind anderer Meinung, aber untereinander sind sie ohnehin hoffnungslos zerstritten, schlecht organisiert - und daher machtlos.

"Aus dem sozialistischen Jugoslawien entstandene serbische Gewerkschaften haben gar keine Erfahrung mit dem Kampf für die Rechte der Arbeiter", erklärt Aida Corovic, die Leiterin der einflussreichen Nichtregierungsorganisation "Urban In" in Novi Pazar. Sie arbeitet gerade an einem Projekt für die "bitternötige" Ausbildung der serbischen Gewerkschaftsführer, die erst lernen müssten, wie eine Arbeiterbewegung funktioniert, wie man mit der Regierung und Arbeitgebern verhandelt. Durch die Wirtschaftskrise sei es sehr schwierig geworden, Geld für solche Projekte aufzutreiben, sagt Aida. Dabei könnten die spontanen, unkontrollierten Proteste, als Resultat der Hoffnungslosigkeit und eines zwei Jahrzehnte lang andauernden Elends, zu anarchistischen Zuständen führen.

Mit der bedrückenden sozialen Lage ist auch ein gewaltiger Anstieg von Raubüberfällen zu erklären. Novi Pazar hat eine Arbeitslosenrate von 47 Prozent und ist damit, wie viele andere serbische Provinzstädte, eine Stadt des Lumpenproletariats und der Armut geworden. Eine soziale Zeitbombe, meinen Soziologen.

Die einst blühende Textilindustrie - die Stadt wurde früher "Jeans-Tal genannt" - ist heute nicht mehr sehr profitabel, weil einerseits die Fälschung von bekannten Marken wie Levis oder Versace in Serbien nicht mehr geduldet wird, und weil man andererseits mit den Preisen von Textilhändlern aus China nicht mithalten kann.

Noch etwas zeichnet Novi Pazar aus: Über achtzig Prozent der Bevölkerung sind Bosniaken. Und trotz der allgemeinen Misere gibt es keine nationalen Spannungen zwischen Serben und Bosniaken. Bislang. Der Serbe Zoran Bulatovic besteht auf dem multiethnischen Charakter des Protests der Textilarbeiter, und wenn er davon spricht, nicken seine muslimischen Kollegen heftig mit dem Kopf. Doch weder Serbien noch die Nachbarländer haben den nationalistischen Wahn und die Kriege aus den 90er Jahren bewältigt. Die soziale Misere könnte die Arbeiter zu solidarischem Handeln verleiten, die Not könnte aber auch schnell in eine ganz andere Richtung führen. Wenn die Betroffenen nämlich die derzeitige pro-europäische Regierung für ihr Elend verantwortlich machen, bleibt das Land anfällig für national-sozialistische Populisten.

In Novi Pazar, im Länderdreieck Kosovo, Montenegro und Bosnien. gelegen, leben viele Menschen vom Schmuggel. Ehemalige Arbeiter verkaufen auf dem Markt, was immer sie in die Finger kriegen. Oder sie erhalten Geld von Verwandten aus dem Ausland. Kenner der hiesigen Szene sagen, dass der Weg der Drogen nach Westeuropa weniger über Bulgarien und Rumänien als über den Sandschak führt. Heroin soll hier billiger sein als Marihuana.

Mit den vielen Moscheen hat die multiethnische, doch heruntergekommene Stadt einen orientalischen Charme. Die Gassen sind eng, die Gebäude in der Altstadt klein. In einigen Gasthäusern wird kein Alkohol verkauft. Entsprechend der sozialen Lage kostet ein Kaffee rund 30 Cent, dreimal weniger als in Belgrad. Für fünf Euro bekommt man sensationelle, aus Kalbs- und Schafsfleisch gemachte Cevapcici - der Sandschak ist dafür berühmt - für zwei Personen inklusive Getränke.

Den 1. Mai verbringen Bulatovic und seine Kollegen in ihrer gewählten Selbstisolation. Doch auch andere Arbeiter feiern den Tag der Arbeiter nicht. Obwohl in vielen Geschäften immer noch Fotos von Josip Broz Tito hängen, dem ehemaligen Staatschef des untergegangenen sozialistischen Jugoslawien. Damals ging es den Arbeitern deutlich besser. "Den 1. Mai feien wir nicht mehr", erklären einige um Bulatovic versammelte Männer, dies sei ein kommunistischer Brauch, und Serbien sei kein kommunistisches Land mehr. Wie früher brechen viele Menschen am 1. Mai in der Früh zum Picknick in die Natur auf. "Nur die Bonzen feiern, während die Arbeiter im Dreck sitzen und immer noch nicht in Massen auf die Straße gehen", sagt Bulatovic drohend. Er wollte nicht mehr tatenlos zuschauen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.