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Serbien ist ohne Präsident

Die Wahlen scheitern an der geringen Beteiligung und sind ungültig. Dies verschärft die politischen Spannungen im Lande. Die Nationalisten um Šešelj etablieren sich wieder als Machtfaktor. Bei Neuwahlen könnte er sogar in die Stichwahl kommen

aus Belgrad ANDREJ IVANJI

Die zweite Runde der serbischen Präsidentenwahl ist an der geringen Wahlbeteiligung von rund 46 Prozent gescheitert. Nötig wäre eine Mindestbeteiligung von 50 Prozent gewesen. Damit ist die gesamte Wahl ungültig und muss wiederholt werden.

Der noch amtierende Präsident aus der Milošević-Zeit, Milan Milutinović, packt seine Koffer und wird vom UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag erwartet. Sein Amt übernimmt vorübergehend die Vorsitzende des serbischen Parlaments. Eine neue Präsidentenwahl könnte im Dezember stattfinden. Doch ein Ende der politischen Krise in Serbien ist nicht in Sicht.

Der konservative, national gesinnte Favorit der Stichwahl, Vojislav Koštunica, kann sich mit einem haushohen Sieg trösten. Der amtierende jugoslawische Bundespräsident gewann 67 Prozent, sein Herausforderer, der liberale Technokrat und Bundesvizepremier, Miroljub Labus, erreichte gerade 32 Prozent. Sein Wahlstab deutete schon an, dass er nach der deutlichen Niederlage möglicherweise nicht wieder kandidiert.

Das Misslingen der Präsidentenwahl nahm Koštunica zum Anlass, Ministerpräsident Zoran Djindjić und seine Regierung, die hinter Labus steht, erneut heftig anzugreifen. Es sei von vorneherein „unverantwortlich“ gewesen, die Wahlen aufgrund der alten Gesetze, veralteter Wählerlisten und vor allem der alten Milošević-Verfassung, die die Wahlbeteiligung von über fünfzig Prozent vorschreibt, auszuschreiben. Das Scheitern der Präsidentenwahl habe die „politische und institutionelle Krise in Serbien noch mehr vertieft“, meinte Koštunica. Den einzigen Ausweg aus dem Teufelkreis sieht er in vorgezogenen Parlamentswahlen.

Die Präsidentenwahl sei ein „Spiegelbild der allgemeinen Unzufriedenheit in Serbien“, konnte man in der Wahlnacht im Hauptquartier der Demokratischen Patei Serbiens (DSS) von Koštunica hören. Nicht nur die rund zwei Millionen Menschen, die für Koštunica gestimmt hätten, sondern auch die vielen Enthaltungen zeigten, dass die Regierung Djindjić die Unterstützung im Parlament und in der Bevölkerung verloren habe. Die serbische Regierung halte die Gesetzesreformen auf, weil sie „auf den Geschmack“ des „willkürlichen“ Regierens „per Dekret“ außerhalb der staatlichen Institutionen gekommen sei.

„Es ist nichts Dramatisches passiert“, erklärte auf der anderen Seite Cedomir Jovanović, die rechte Hand von Djindjić und Fraktionschef der Demokratischen Partei (DS). Schon in der kommenden Woche werde man aufgrund der Verfassung die Präsidentenwahlen erneut auschreiben, Parlament und Regierung würden „ganz normal“ ihre Arbeit wieder aufnehmen. Die Reformen dürften unter keinen Umständen aufgehalten werden.

„Anscheinend hat Serbien dem Ultranationalisten Vojislav Šešelj eine zweite Chance ermöglicht“, sagte seufzend Mladjen Dindkić, der junge Gouverneur der Notenbank. Und tatsächlich ist der einzige Gewinner der misslungenen Präsidentenwahl Šešelj, der vor einem Jahrzehnt den „Kroaten die Augen mit einem verrosteten Löffel“ ausstechen wollte und gern mit einer Pistole in der Öffentlichkeit fuchtelte. Der Führer der Serbischen Radikalen Partei (SRS) hatte die Stichwahl mit nur wenigen Prozenten Rückstand hinter Labus verfehlt und zum Boykott der zweiten Wahlrunde aufgerufen. Bei neuerlichen Präsidentenwahlen bietet sich für Šešelj die Chance, sich als Einheitskandidat aller rechtsradikalen Kräfte in Serbien zu präsentieren und in die Stichwahl zu kommen.

Der heftige Machtkampf unter den demokratischen Kräften, die Krise der staatlichen Institutionen, die Reformen, die die verarmten Bürger Serbiens hart treffen, treiben immer mehr Menschen zur Wahlenthaltung, in die Apathie oder in die Arme des geschickten Populisten Šešelj.

Meinungsforscher behaupten, dass über siebzig Prozent von Šešeljs Anhängern der untersten sozialen Schicht angehören. Ebenso ist die Wahlabstinenz am höchsten in den unentwickeltsten Teilen Serbiens. Optimisten meinen dagegen, die niedrige Wahlbeteiligung sei dadurch zu erklären, dass die Bürger Serbiens zwischen zwei „demokratischen“ Kandidaten zu wählen hatten. Außerdem sei es zum ersten Mal seit langer Zeit um nichts „Schicksalhaftes“ gegangen. Neben den beiden verfeindeten Blocks um Koštunica und Djindjić haben sich jedoch die nach der Wende in Serbien vor zwei Jahren totgesagten Radikalen von Šešelj wieder als ein wachsender Machtfaktor etabliert.

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