Seniorinnen in Deutschland : Sind wir altersrassistisch?
Während die Politiker Spahn, Heil und Lang populistisches Renten-Theater aufführen, führt die Realität nichtfunktionierender Altenpolitik speziell bei Frauen zu würdelosen letzten Jahren in Ausgrenzung und Einsamkeit.
Von UDO KNAPP
„Die Rente mit 63 kostet Wohlstand, belastet künftige Generationen und setzt die falschen Anreize. Sie sollte sofort abgeschafft werden.“ Jens Spahn, CDU
„Diese Äußerungen zur Rente gehen an der Lebenswirklichkeit vieler fleißiger Menschen, die früh angefangen haben zu arbeiten und lang eingezahlt haben, vorbei. Sie sind leistungsfeindlich und unfair.“ Hubertus Heil, Bundesarbeitsminister, SPD
„Wer die Rente mit 63 abschaffen will, setzt nicht auf Flexibilität, sondern auf soziale Kälte. Die Abschaffung leistet keinen Beitrag zur Fachkräftesicherung, sondern würde für viele langjährig Versicherte faktisch zu einer Rentenkürzung führen.“ Ricarda Lang, Vorsitzende der Grünen
taz FUTURZWEI, 06.06.2023 | Kurz vorm Sommerloch will der Oppositionspolitiker Jens Spahn noch schnell mal die Rente mit 63 abschaffen. Der CDU-Bundestagsabgeordnete weist zu Recht auf den Facharbeitermangel in den nächsten Jahrzehnten hin, der durch die Rente mit 63 verschärft wird. 2021 etwa war nach den Daten des Mikrozensus zur Entwicklung der Erwerbsbeteiligung fast jeder dritte Neuzugang in die Rente ein 63er. Spahn weiß selbstredend, dass er mit seinem Vorstoß weder den Rückgang der Erwerbsbeteiligung noch die Finanzierungsprobleme des Rentensystems wegen der demographischen Tatsache der übermäßigen Alterung bewältigen kann.
Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) reagiert im sozialdemokratischen Gerechtigkeitsreflex, obwohl die Nutznießer der Rente mit 63 allein die „nichtakademisch ausgebildeten Männer ohne Migrationshintergrund“, wie der Rechtswissenschaftler Gregor Thüsing sagt. Nur diese klassischen Arbeiter schaffen es vor ihrem 63. Geburtstag, die für eine Rente ohne Abschläge erforderlichen 45 Beitragsjahre zusammenzubringen. Dagegen bringen Frauen wegen Kindererziehung und Familienarbeit in der Regel diese 45 Jahre auch bis zum 67. Geburtstag nicht zusammen. Zusätzlich haben sie oft viele Jahre in Teilzeit gearbeitet, sodass ihre Rentenpunkte nur für Renten ausreichen, die gering oder gar nicht über der Grundsicherung liegen.
Auch Heil weiß selbstverständlich, dass die seit diesem Jahr geltende Aufhebung der Zuverdienstgrenzen für Rentner zwar dazu geführt hat, dass die Zahl der arbeitenden Rentner angestiegen ist, aber dass damit weder die langfristige Finanzierung der Renten im Modus des Generationsvertrages noch der zunehmende Mangel an Arbeitskräften behoben werden kann.
Die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang kritisiert derweil, ganz im Denken sozialdemokratischer Sozialpolitik verhaftet, die bei der Abschaffung der 63er Rente verlorengehenden Chancen der privilegierten Männer mit den früh erreichten 45 Beitragsjahren auf einen Zuverdienst. Sie ignoriert dabei, dass bei der Abschaffung der 63er Rente die Weiterarbeitenden auch weiter Rentenpunkte sammeln und so ihre Renten erhöhen würden.
Altersarmut, das meint Armut alter Frauen
Alle drei Politiker führen populistisches Theater auf, ohne auch nur einen Gedanken vorzutragen, wie etwa die systemische Ungerechtigkeit gegenüber den Frauen in unserem Rentensystem behoben werden könnte. Trotz erfolgreicher Emanzipationsbemühungen der Frauen bleiben nach wie vor die Lasten der Familien- und Erziehungsarbeit in der Rentensystematik unbeachtet. Gleiches gilt für die nicht voll ausschöpfbaren Möglichkeiten, Vollzeit zu arbeiten.
Eine Folge ist, dass hunderttausende Frauen, nachdem sie ihre Männer jahrelang gepflegt haben, nach deren Ableben mit sehr niedrigen Renten auskommen müssen. Altersarmut ist überwiegend Armut alter Frauen. Die soziale Lage dieser Frauen wird verschärft durch die immer noch gepflegte Vorstellung, dass sie, von ihren Kindern und Verwandten gut versorgt, auch mit Minirenten ein würdevolles Leben führen könnten.
Davon kann keine Rede sein.
Würdelose Einsamkeit
Von ihren Kindern und anderen Angehörigen können und wollen viele dieser Frauen auch gar nicht abhängig sein, weil das ihr Selbstbewusstsein verletzt. Sie bleiben in ihren großen Familienwohnungen allein. Selbst wenn sie wollten, könnten sie auch gar nicht umziehen, weil es für sie bezahlbare, kleinere Wohnungen nicht gibt. Viele von ihnen versinken in Einsamkeit.
Sie verlassen aus Armutsscham, mit Essen auf Rädern zusätzlich ausgegrenzt, ihre Wohnungen auch dann nicht mehr, wenn sie es physisch noch könnten. Auf den letzten Wegen ihres Lebens landen sie in der – für viele als demütigend empfundenen – Abhängigkeit von der Sozialhilfe. Damit wird dann gegebenfalls zwar auch die ambulante Pflege finanziert oder auch die Unterbringung in stationären Pflegeeinrichtungen: Aber Tatsache ist, dass viele alte Frauen ihre letzten Jahre in würdeloser Einsamkeit verbringen müssen, von der Gesellschaft abgeschrieben und schon lange nicht mehr wahrgenommen.
Es gibt keine Altenpolitik in Deutschland, die diese Tatsachen zur Kenntnis nehmen und politisch adressieren würde. Dabei gibt es gute Erfahrungen in demokratischen europäischen Ländern, wie das Rentensystem, auf der Befestigung des Generationenvertrages aufbauend, so stabilisiert werden könnte, dass Respekt und Anerkennung der Lebensleistungen aller Alten würdevolle letzte Jahre ermöglichen und garantieren würde.
Altersdiskriminierung zerstört Zusammenhalt der Generationen
Politikinstrumente sind: 1.500 Euro Grundrente für alle, unabhängig davon, wie viele Jahre sie Beiträge in die Rentenkassen einbezahlt haben, in die alle Einkommensarten und Einkommensgruppen beitragspflichtig einbezogen werden. Eine verpflichtende private Zusatz-Rentenversicherung in staatlichen oder privaten Rentenfonds. Eine Flexibilisierung der Verrentung, die individuellen Bedürfnissen und physischen Bedingungen Rechnung trägt. Eine verpflichtende Pflegeversicherung, die einen öffentlich gesicherten und am besten kommunal organisierten Anspruch auf alle und jede Pflege begründet.
Eine Gesellschaft, die Ihre Alten ignoriert, nur mit dem Allernötigsten ausstattet, aus dem öffentlichen Leben entfernt und ausgrenzt, die das Sterben und den Tod ignoriert: So eine Gesellschaft ist altersrassistisch. Sie zerstört den Zusammenhalt der Generationen, sie beschädigt das demokratische Zusammenleben. Rentenfragen sind Lebensfragen, von denen das Glück und die Würde des Lebens aller bis zum letzten Tag abhängen. Rentenpolitik ist Politik für ein gutes Leben im Alter, kein Spielfeld für sozialpolitisches Gerechtigkeitsgewürge oder wichtigtuerische Wirtschaftspolitik.
UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für taz FUTURZWEI.