Senior-Besetzer: Darauf ein Glas Rotkäppchen
Das Besetzungskapitel ist so gut wie abgeschlossen - Grund genug für die SeniorInnen in der Stillen Straße, ein Fest zu feiern.
Es gibt eine Szene aus meiner Kindheit, die sich mir ins Gehirn gebrannt hat: Ich bin sechs Jahre alt und sitze auf dem Dachboden eines besetzten Hauses in Kreuzberg, während die Polizei von außen versucht, die mit Stahlstangen verbarrikadierte Tür mittels eines Rammbocks zu öffnen. Nachdem es den anderen Bewohnern nicht gelungen war, das Haus gegen die eindringenden Beamten zu verteidigen, ist dies das typische Finale einer Hausbesetzung. Vor dem Haus höre ich die Sprechchöre der Unterstützer und das Geheul der Sirenen, ab und zu splittert Glas, um mich herum sitzen andere Kinder, meine Mutter und ein paar Freunde.
Solche oder ähnliche Bilder hat wohl jeder im Kopf, wenn er an Hausbesetzungen denkt. Bis heute. Denn zwanzig Jahre später, in der ihrem Namen mehr als gerecht werdenden Stillen Straße in Pankow, haben einige Senioren und ihre Unterstützer etwas fertiggebracht, was seit Jahren in Berlin undenkbar schien: eine erfolgreiche Hausbesetzung. Nachdem die Bezirksverordnetenversammlung Pankow (BVV) im März 2012 beschlossen hatte, die Seniorenbegegnungsstätte aus Kostengründen zu schließen, hatten die NutzerInnen des Hauses kurzerhand beschlossen, das Gebäude zu besetzen. Sie bekamen jede Menge Sympathiebekundungen und Unterstützung. Viele kamen vorbei, von den Gentrifizierungsgegnern über die Nachbarn und Anwohner bis hin zu Abgeordneten, die selber jahrelang Berlins neoliberale Wohnungspolitik vorangetrieben hatten und nun, in der Opposition, angeblich ihr gutes Gewissen entdeckt haben.
Genau 111 Tage nach Beginn der Besetzung darf nun gefeiert werden: Am vergangenen Donnerstag hat die BVV fast einhellig einem Antrag von SPD und Grünen zur Weiternutzung der Villa zugestimmt. Beide Parteien hatten sich monatelang quergestellt. Jetzt übernimmt die Volkssolidarität als freier Träger, zumindest für ein weiteres Jahr ist der Erhalt gesichert.
Standesgemäß werden am Samstag Kaffee und Kuchen aufgetischt und auch die eine oder andere Flasche Sekt geöffnet. Im Garten sind Boxen aufgebaut, die Sonne scheint, und ein in die Jahre gekommener DJ spielt Gute-Laune-Musik. Der Andrang ist groß, auch der der Medien, denn die Bewohner erfüllen ein Kriterium, das sehr hilfreich bei ihrem Unterfangen ist: Sie sind aufgrund ihres hohen Alters eine Meldung wert. Alte Hausbesetzer, das passt nicht ins Bild und wird entsprechend verwertet.
Den RentnerInnen daraus einen Strick zu drehen, wäre verrückt, es ist ja nicht ihre Schuld, dass sie so unglaublich süß wirken. Bei anderen Besetzungen werden die gern im Hintergrund stehenden Verantwortlichen von dem Mummenschanz übertüncht, den Polizisten und Demonstranten veranstalten. Die Medien berichten über das angebliche Chaos, und der Leser glaubt, etwas erfahren zu haben. In diesem Fall ist dies nicht möglich. Hier wurde das Versagen der Politik offenbar. Wenn es dazu eine Schar Rentner braucht, ist es wohl an der Zeit, den „Aufstand der Alten“ anzuzetteln.
„Sie schwitzen ja jetzt schon, dabei haben wir noch gar nicht angefangen“, begrüßt mich eine verschmitzte Dame, als ich mich brav in die Schlange aus Kamerateams, Fotografen und Schreiberlingen stelle. Stolz berichtet eine weitere Dauerbesucherin bei einem Glas Rotkäppchen von dem Moment, als die Stadträtin selbst vorbeikam, um sich die Schlüssel geben zu lassen: „Wir haben einfach Nein gesagt.“ Nicht Schadenfreude spricht aus diesem Satz, sondern das Wissen, richtig gehandelt zu haben.
Generell scheint Pankows SPD-Stadträtin für Soziales eine merkwürdige Vorstellung von Seniorentreffs zu haben: Am Eingang haben die Bewohner ein Zitat von Lioba Zürn-Kasztantowicz aufgehängt: „In dem Seniorentreffen halten sich vermehrt junge Leute auf. Illegale also.“ Diesen erfreulichen Zustand zu fördern oder gar als Vorbild zu sehen, kam der Politikerin nicht in den Sinn, ihre Prioritäten scheinen woanders zu liegen.
Inzwischen habe ich das dritte Stück Kuchen in der Hand und bedanke mich abermals für die Gastfreundschaft. „Na selbstverständlich, wir begrüßen erst mal jeden freundlich.“ Dazu passt die Geschichte mit den Beamten in Zivil. Zu Beginn der Besetzung hatten die sich gegenüber der Villa positioniert, wahrscheinlich um herauszufinden, aus welchen suspekten Kreisen die Unterstützer kommen. Also haben die Senioren Kaffee gekocht, ein paar Stullen geschmiert und sind vor die Tür gegangen, um die Zivilpolizisten ins Haus einzuladen, „wo es ja auch wesentlich gemütlicher ist als im Dienstwagen“. Die Beamten seien wortlos weggefahren und hätten sich nie mehr blicken lassen.
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