Seltene Krankheiten: 15 Jahre bis zur richtigen Diagnose
Immer Schmerzen und keine Lösung. Politik, Patienten und Gesundheitswesen starten eine Offensive, um Menschen mit seltenen Krankheiten zu helfen.
BERLIN taz | Ein junger Mann merkt, dass er Schmerzen in Kopf und Nacken hat. Er geht er zu seinem Hausarzt, der die Symptome für normale Muskelverspannungen hält. Nach einigen Wochen kommt ein seltsames Gefühl in den Armen dazu. Später Schlafstörungen. Der Arzt vermutet psychosomatische Gründe. Bald kann der Patient seine Arme nicht mehr richtig bewegen.
Bis ein Mediziner herausfindet, dass hinter solchen Beschwerden eine Syringomyelie, eine gefährliche, aber seltene Rückenmarkserkrankung, steckt, können schnell Monate vergehen – oder noch länger.
Olaf Rieß vom Universitätsklinikum Tübingen kennt Patienten, die verzweifelt über fünfzehn Jahre durch Arztpraxen und Kliniken irren, bis sie endlich eine richtige Diagnose erhalten.
Solchen Patienten soll in Zukunft schneller geholfen werden. Am Mittwoch präsentierte Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) den „Nationalen Aktionsplan“ zur Verbesserung der Versorgung von Menschen, die unter einer seltenen Erkrankung leiden.
In der Europäischen Union gilt eine Krankheit als selten, wenn nicht mehr als einer von 2.000 EU-Bürgern daran leidet.
In der Regel ist es deshalb für die Pharmaindustrie wirtschaftlich uninteressant, Arzneimittel gegen seltene Krankheiten zu entwickeln.
Das Netzwerk Seltene Krankheiten zählte 2006 rund 17.000 genetisch bedingte seltene Krankheiten. Bis zu 8.000 davon kommen in Deutschland vor.
In der EU sind bis zu 36 Millionen Menschen von diesen Erkrankungen betroffen. In Deutschland geht man von etwa 4 Millionen Patienten aus.
Die EU-Arzneimittelbehörde EMA mit Sitz in London entscheidet im Einzelfall, ob eine Krankheit als selten definiert wird oder nicht.
Zu den seltenen Krankheiten zählen auch bekannte Leiden wie Leukämie, Mukoviszidose und Morbus Crohn. (cja)
8.000 seltene Erkrankungen
Ärzte gehen bei Patienten mit unklaren Beschwerden zunächst von Erkrankungen aus, die sie kennen – meist auch dann, wenn sie einen Patienten vor sich haben, der unter einer der 8.000 seltenen Erkrankungen leidet. Doch diese Krankheiten haben nur die wenigsten Ärzte selbst gesehen, geschweige denn je behandelt. Patienten müssen oft jahrelange Untersuchungen ertragen, bis sie wissen, woran sie erkrankt sind.
Christoph Nachtigäller, Vorsitzender der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen, nannte den jetzt präsentierten Aktionsplan am Mittwoch einen „Meilenstein“. Er eröffne „eine Perspektive, dass solche Geschichten zur Ausnahme werden“. Der vom Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) erarbeitete Katalog umfasst 52 Maßnahmenvorschläge. Sie sollen Patienten künftig eine Odyssee durch das Gesundheitssystem ersparen, erklärte Minister Bahr bei der Vorstellung des Plans.
Ein zentraler Punkt des Plans ist die Schaffung von Fachzentren und Patientenregistern. Dort soll das Wissen zu seltenen Erkrankungen gebündelt und eine wohnortnahe Versorgung ermöglicht werden. Betroffene sollen schneller an die richtigen Stellen verwiesen, ihre Erkrankung so früh wie möglich diagnostiziert werden. Nachtigäller sieht die Fachzentren als „Lotsen“ im Dickicht des Gesundheitssystems. Daran geknüpft ist auch die Hoffnung, durch die verbesserte Registrierung von Patienten Klinische Studien für neue Arzneien zu vereinfachen.
Helge Braun, parlamentarischer Staatssekretär im Bundesforschungsministerium (BMBF), kündigte an, die Erforschung seltener Erkrankungen in den nächsten fünf Jahren zu fördern. Vorgesehen sind hierfür bis 2018 allerdings gerade mal 27 Millionen Euro.
Standardisierte Informationen
Patienten und Ärzte sollen in Zukunft standardisierte Informationen zu seltenen Erkrankungen erhalten. Dazu soll ein einheitliches, zentral verwaltetes Internetportal entstehen, das Informationen zu Fachzentren, Studien, Patientenregistern und Netzwerken bündelt. Zusätzlich soll ein„Atlas seltene Erkrankungen“ als interaktive Landkarte einen Überblick über die Versorgung in Deutschland geben.
In zwei Jahren will das BMG den Plan evaluieren. Ein Sprecher nannte es „an sich schon eine Leistung“, alle Beteiligten im Rahmen des Aktionsplans zusammengebracht zu haben. „Die Umsetzung liegt nun an den Akteuren selbst“, sagt Bahr.
Der Patientenvertreter Nachtigäller gibt sich optimistisch: „Wenn wir das machen, was wir uns vorgenommen haben, sind wir in drei Jahren erheblich weiter.“
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