Selenski live im Hörsaal: Kurz kommt Hektik auf
Studierende der Humboldt-Universität und der Viadrina in Frankfurt (Oder) diskutierten mit dem ukrainischen Präsidenten. Der ist erstaunlich locker.
Vielleicht war das eine der Überraschungen an diesem ungewöhnlichen Aufeinandertreffen am Dienstag zwischen Berlin, Frankfurt (Oder) und Kyjiw. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski stellte sich den Fragen von Studierenden der Humboldt-Universität und der Europa-Universität Viadrina – und diese Fragen waren nicht abgestimmt, geschweige denn vorsortiert.
Selenski, diesmal nicht in olivgrün, sondern im schwarzen Pullover, schien das Setting zu gefallen. Je länger die Fragerunde dauerte, desto konkreter wurde er in seinen Antworten. Auf die Frage nach der sexualisierten Gewalt sagte er, dass das Parlament die Istanbuler Konvention verabschiedet habe. Damit beuge man häuslicher Gewalt vor.
Der Reformprozess, antwortete er auf die andere Frage, gehe auch im Krieg voran. „Wir haben keine Zeit zu warten“, betonte Selenski. „Deshalb machen wir auch im Kriegsgeschehen Reformen, aber eben langsamer.“ Bei der Digitalisierung aber habe man einen „Durchbruch“ erzielt.
250 Studierende und Beschäftigte aus der Ukraine sind an der Viadrina tätig, gerade baut die Europa-Universität ein „Ukraine-Zentrum“ auf, betonte Präsidentin Eva Kocher. „Das trägt dazu bei, dass wir die Ereignisse besser verstehen.“ HU-Präsidentin Julia von Blumenthal sagte, es sei wichtig, Wissen über die Ukraine zu befördern. „Viel zu wenig wurde in der Vergangenheit auf die Stimmen derjenigen gehört. die zur Ukraine forschen.“
Idee nach einem Besuch in Frankfurt
Der Videocall mit dem Präsidialamt in Kyjiw wurde in die gefüllten Hörsäle der HU und der Viadrina übertragen und auch bei Youtube gestreamt. „Die Idee dazu kam, als uns eine Delegation aus der Ukraine besuchte“, sagte Eva Kocher. Der Termin selbst fiel auf den 31. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Berlin und Kyjiw.
Eine Frage war die nach den Zerstörungen der Infrastruktur. „Wie soll die Rückkehr der Ukrainerinnen und Ukrainer in ihr Heimatland aussehen?“ Antwort des Präsidenten: „Wenn die Menschen zurückkommen, brauchen sie Wohnungen und Schulen, auf die die Kinder gehen können.“ Er als Präsident könne natürlich nicht sagen, kommt zurück. „Die Menschen kommen zurück, wenn es sicher ist. Deshalb bedanken wir uns für die Flugabwehrsysteme. Aber wir erwarten auch weitere Waffen.“
Es war ein Spagat zwischen dem Alltag vor allem ukrainischer Studierender und ihrer Fragen und dem Kriegsgeschehen in der Ukraine – und auch ein Lehrstück in Sachen Diplomatie. Als ein ukrainischer Jurist fragte, wie die Botschafter von Kyjiw ausgewählt würden, sagte Selenski, dass natürlich viele Juristen darunter seien und lud den Mann ein, sich zu bewerben. Es gebe aber auch Botschafter mit einer militärischen Ausbildung. „Die kennen sich mit Waffen aus.“
Zwischendurch kam Hektik auf. Das Präsidialamt in Kyjiw habe gerade mitgeteilt, dass der Präsident die Sitzung unterbrechen müsse, sagte Julia von Blumenthal. „Er muss zu einem Videocall mit den Streitkräften.“ Zehn Minuten bestimmte das Geschehen an der Front auch die universitäre Diskussion in den Hörsälen von Frankfurt und Berlin.
Die Pause nutzte der ukrainische Botschafter Oleksij Makeiev für eine Forderung an die Bundesregierung. Nein, er habe den neuen Verteidigungsminister noch nicht gesprochen, antwortete Makeiev auf die Frage nach der Ernennung von Boris Pistorius. Er gehe aber davon aus, dass Ende der Woche in Ramstein wichtige Entscheidungen getroffen werden.
Auch das Gespräch mit Studierenden ist also eine Gelegenheit, den Druck aufrecht zu erhalten, Kampfpanzer zu liefern. „Wir haben es geschafft, eine Koalition von Staaten zusammenzuführen“, betonte Makeiev. Auf der US-Basis in der Pfalz treffen sich am Freitag die Verteidigungsminister der Ukraine-Kontaktgruppe. Dabei wird es auch um die Frage geben, ob Deutschland der Lieferung von Leopard-Panzern durch Polen und anderen Nato-Staaten zustimmt.
Nach dem Gespräch mit den Streitkräften kehrte Selenski zurück. Die Diskussion genoss er sichtlich, oft huschte sogar ein Lachen über sein Gesicht. „Ist die Ukraine ein Land mit Zukunft?“, lautete die letzte Frage. „Wir verteidigen unser Land mit unserem eigenen Leben“, sagte der ukrainische Präsident. Sie ist das freieste Land der Welt, denn Freiheit ist das höchste Gut, das man hat.“
„Wir stehen an ihrer Seite“, bedankte sich die HU-Präsidentin, „und wir freuen uns auf den Tag, in dem wir ihr Land wieder bereisen können.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Scholz bezeichnet russischen Raketeneinsatz als „furchtbare Eskalation“
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen