Selbstversuch putzen lassen: Sauberer wird’s nicht, Schatz
Das Leben zwischen Bartstoppeln und Flecken fühlte sich für unseren Autor gut an. Dann stellte er fest: Es ist eine Demo gegen sich selbst. Nun holt er sich Hilfe.
Dieser Text erschien am 6. Februar 2016
Mit dem Putzen anfangen ist wie mit dem Rauchen aufhören. So schwer kann es eigentlich nicht sein, ist es dann aber doch. Vor ein paar Jahren bereits ließ ich mir einen kleinen, handlichen Hochdruckreiniger zum Geburtstag schenken. Eine schwäbische Tech-Waffe im Kampf gegen den Schmutz. In den Krieg aber bin ich bis heute nicht gezogen.
Dabei muss sogar am angeblich verruchtesten Ort der Welt irgendwann mal geputzt werden. „Berghain sucht Reinigungskräfte“ – diese Anzeige fiel mir als erstes auf bei meiner Suche nach Hilfe im Haushalt. Ein Inserat in einem Berliner Szenemagazin. Wenn sogar die Körperflüssigkeiten auf den Lederschaukeln eines Technoclubs professionell weggewienert werden, warum dann nicht die zu Ewigkeit geronnenen Soßenflecken auf dem Linoleumbelag meiner Küche?
Ich fand es bislang unangebracht, eine Putzkraft zu beschäftigen. Als ich noch Student war, wäre so etwas ohnehin nicht in Frage gekommen. In der Kohl-Ära gab es Putzfrauen höchstens in den WGs von BWL-Studenten. Und: Wieso eigentlich immer eine Frau? Damit fängt es ja schon an. Womöglich auch noch mit Migrationshintergrund. Anderen Leute ein bisschen Geld in die Hand drücken, damit sie einem auf Knien rutschend den Dreck wegmachen. Beschämend.
Doch dann stand ich in meinem winzigen Badezimmer und mir kam der Gedanke, dass mir im Lauf der letzten zehn Jahre meines Arbeits- und Privatlebens etwas entglitten sein musste. Zumindest die Kontrolle über das große dunkelbraune Loch, das als Abfluss meiner Toilette fungiert. Ist das nicht beschämend? Und was ist mit den kleinen schwarzen Punkten, die sich in den Fugen zwischen den Fliesen angesiedelt haben? Und den Kreidefelsen, die sich auf den Flächen der Duschkabine erheben? Wann genau nur war ich eingeknickt – oder hatte ich womöglich nie gestanden?
Ein letzter Versuch des Aufbäumens. Der Hochdruckreiniger brummt und zischt zwar immer noch martialisch, ist jedoch augenscheinlich aufgrund von Verkalkung nur noch bedingt einsatzbereit. Aus dem Kanonenrohr kommt ein schlaffes, lauwarmes Wölkchen. Am Ende bleibt mir nichts übrig, als die Handschuhe überzustreifen und kleinlaut mit einem Schwämmchen über die Flächen zu wischen, die auch nach einer Minute kreisender Massage aussehen wie zuvor. Ich stoße mir den Kopf bei dem Versuch, mit dem Lappen hinter die Toilette zu gelangen und das Knie an der Heizung auf dem Weg zur Duschkabine. Sprühe Reinigungsmittel, als müsste ich mich gegen Aliens zur Wehr setzen, bevor ich mich schließlich geschlagen gebe und es bei genau der Oberflächlichkeit belasse, mit der ich schon in der Vergangenheit stets glaubte, irgendwie durchzukommen.
Eine Zwangsneurose müsste man haben. Oder wenigstens einen kleinen Putzfimmel. Stattdessen zerbricht mir ein Fläschchen mit Teebaumöl auf den Fliesen des Badezimmers. Nun riecht es wenigstens so aseptisch, wie die Wohnungen im Werbefernsehen aussehen. Ich glaube, ich brauche Hilfe.
„Boah, hier riecht’s ja vielleicht krass“, sagt Kerstin zur Begrüßung. Um Punkt 12 Uhr, Samstag, hat sie unten geklingelt und steht nun vor der Wohnungstür. Die Perle. Genauer gesagt ist sie die Perle eines guten Freundes, und genau so werden Putzhilfen hierzulande normalerweise vermittelt. Sie werden empfohlen, von Freunden und Kolleginnen. Man ruft nicht bei der Agentur für Arbeit an, es werden keine Steuern gezahlt, abgesetzt wird auch nichts.
Kerstin kann heute eigentlich nicht, denn am Samstag ist Oma-Tag: „Ich war bei der Geburt dabei! Nun ist sie drei“, erzählt sie stolz, später will sie mit dem Kind ins Zoo-Aquarium. „Aber das kostet auch Geld. Dabei kann sich das Kind ja eh nur eine halbe Stunde konzentrieren. Wie neulich als ich ihr die Barbiepuppe gekauft habe!“ Kerstin, die Oma, trägt einen praktischen Kurzhaarschnitt, Jeans, Turnschuhe. Erstmal gibt es Kaffee. Wir stehen in der Küche, die sie gleich putzen soll. „Handschuhe brauche ich nicht, dann spüre ich nichts.“ Und die Hände? „Ach“, lacht sie, „ich bin schon fünfzig, da ist es dann auch egal.“
In den Neunzigern ist sie von Essen nach Berlin gekommen, der Klingelton ihres Smartphones ist immer noch Techno. „Zur Loveparade, da bin ich immer gern hingegangen. Aber frag mal meine Tochter: Wenn du über vierzig bist und tanzen willst, dann ist das für sie megapeinlich.“
Kerstin durchforstet die Kammer nach Putzmaterialien und verschmäht den Bioreiniger, findet stattdessen eine fast leere rote Sprühflasche, die per Etikett ihren aggressiven Inhalt anpreist. Das Produkt könnte auch „Wumms!!!“ oder „Krachbäng!!“ heißen und Kerstin sprüht Schaum auf den Herd. „Diese Teile da kriegste eh nicht mehr ganz sauber“, warnt sie gleich vor zu großen Erwartungen. Es klingt weniger fatalistisch als lebenserfahren. Schöner wird’s nicht, Schatz. Eigentlich könnte man jetzt eine Flasche Sekt aufmachen – wäre da nicht noch die Arbeit.
„94: Berlin. 96: Heirat. 99: Scheidung. Seitdem stand ich alleine da mit meiner Tochter, so kam ich zum Putzen“, sagt sie. Einen Zettel hat sie damals im Blumenladen einer Bekannten aufgehängt. „Heute betreue ich 14 Haushalte.“ Sie wurde immer weiter empfohlen, jetzt arbeitet Kerstin jeden Tag, sitzt täglich bis zu drei Stunden in Berlin in der Bahn. Blankenfelde-Kirche, Hermsdorf, Prenzlauer Berg.
Beim Wegräumen meiner Gewürzsammlung erläutert sie mir ihr Vertrauenskonzept: „Ich gehöre bei den Menschen, für die ich arbeite, irgendwie zum Leben dazu. Wenn ich das erste Mal komme, lasse ich eine Kopie meines Ausweises da. Könnte ja sonst jeder kommen. Und: Schubladen lasse ich zu, ebenso Kühlschränke, das ist ein Prinzip.“
„Die Flecken da, die gehen nicht mehr weg“
Während ich mich noch frage, ob ich tatsächlich eine Gewürzmühle aus Olivenholz brauche, deren Mahlwerk offensichtlich aus billigem Plastik ist, und auch, warum und wo ich Rosenwasser gekauft habe, etablieren wir unseren eigenen Vertrauenscheck: Wir unterhalten uns über unseren Bezugspunkt – meinen guten Freund, ihren guten Kunden. „Eine Zeit lang habe ich mir ja wirklich Sorgen um ihn gemacht“, erzählt sie und wischt dabei an einem Gläschen mit Kreuzkümmel herum, „immer, wenn ich kam, wusste ich nicht, wo ich anfangen soll: überall volle Aschenbecher und leere Weinflaschen.“
Ja, das weiß ich noch. Ich war ja dabei. Bei der Bewältigung des Liebeskummers seinerzeit, dem Feiern gegen den Schmerz, den wir teilten. Wenn es dabei auch um jeweils verschiedene Liebschaften ging. Er war damals nur noch Haut und Knochen vor Traurigkeit. Aber wenigstens hatte er eine Putzfrau. Und ich bloß einen blöden, verkalkten Mini-Dampfreiniger.
Er wird nun bald Vater und ich bin längst geschieden und habe einen neuen Lebensgefährten. Aber: Vielleicht wäre der Schmerz schneller vorbei gewesen, wenn mir nach der Trennung jemand beim Sauber machen geholfen hätte. Putzen hilft gegen Depressionen, heißt es. Wenn man aber Depressionen hat, hat man leider gar keine Kraft zu putzen.
Kerstins Kirmestechno-Klingelton scheppert. „Ich bin auf Arbeit“, bescheidet sie unwirsch und schaut sich in der Kammer nach Putzgerätschaften für den Fußboden um. Sie bricht in Gelächter aus: „Was ist das denn?“ fragt sie und zeigt auf meinen Metalleimer nebst zugehörigem Holzschrubber und Lappen. „Sieht ja aus wie bei Omma!“ Sie prustet. Mir war bis hierhin nicht bewusst, dass mein Putzbesteck démodé ist, aber dann fällt mir ein, dass mein Exmann diese Gerätschaften besorgt hatte und der hatte einen Mittelalterfimmel. „Ich sag nur: Vileda Wischmop!“, mahnt Kerstin, „wir haben ja schon 2016.“ Jetzt bin ich die Oma.
Kerstins Kunden sind oft alleinstehende Männer. „Einer, ein Junggeselle, bei dem bin ich jetzt schon seit zwanzig Jahren“, sagt sie. „Im Prinzip ist er allein und hat nur mich.“ In seinem Büro lägen immer dicke Bündel mit Bargeld. In Versuchung gekommen sei sie noch nie. „So was gibt es bei mir nicht“, sagt Kerstin, während sie das Linoleum bearbeitet. „Ganz ehrlich: Die Flecken da, die gehen nicht mehr weg. Die gehören jetzt zum Boden dazu.“ Ja, das ist dann wohl so, denke ich. Manche Dinge brennen sich einfach ein. Da ist nichts mehr zu machen.
Dann sagt Kerstin: „So richtig leicht fällt mir das nicht mehr, nach dieser Scheidung damals. Sich wieder auf jemanden einlassen. Aber ich habe trotzdem wieder einen Kerl.“ Sie wischt erneut über den Fußboden. Es ist das dritte Mal.
Auf meiner Fensterbank lagert auch ein kleines Vermögen. Keine Scheine, Wechselgeld, Cent-Münzen – alles was ich in den Taschen finde. „Meine Rente“, sage ich, nur halb im Scherz. Und in diesem Augenblick spielt es keine Rolle, dass hier einer dem anderen den Dreck wegputzt und der andere auch noch dabei zuguckt. Der Altersarmut können wir gemeinsam entgegen blicken, rechnen uns gegenseitig vor, wie sehr wir unter dem Existenzminimum liegen werden. Ich, der Akademiker, ein bisschen weniger als sie mit ihrer abgebrochenen Lehre als Bäckereifachverkäuferin. Heute nennt man das Brotberaterin.
Das Geld bekommt sie am Ende bar auf die Hand, schwarz. So läuft das mit den Perlen. Zwei Stunden hat Kerstin für die Küche gebraucht, weil ich sie mit meinem Gequatsche abgelenkt habe. Ich gebe ihr 30 statt der verabredeten 20 Euro. Das fühlt sich gut an, es vertreibt das schlechte Gewissen. Ein bisschen.
Neben dem Geldhaufen auf meiner Fensterbank steht eine kleine Pflanze, die mein neuer Lebensgefährte aus seiner Heimat Slowenien mitgebracht hat. Sie tröstet ihn, wenn er Heimweh hat. Kerstin hatte sich von Anfang an in das kleine Bäumchen verliebt. „Bei uns zu Hause haben wir das Geldbaum genannt“, sagt sie entzückt und erbittet einen Ableger. Den bekommt sie auch. Ein persönliches Dankeschön dafür, dass sie so etwas Intimes wie die Reinigung meiner Küche übernommen hat. Er soll ihr Glück und Geld bringen.
Ist das also die Lösung, wenn man es nicht auf die Reihe bekommt mit der Sauberkeit? Man baut ein persönliches Verhältnis zu einem fremden Menschen auf, den man am Ende doch dafür bezahlt, damit er für einen arbeitet. Seltsam. Man muss das offenbar von Hause aus gelernt haben: Personal haben und damit umgehen. Hat man es nicht gelernt, entwickelt man zwangsläufig einen irgendwie linkischen Umgang mit dem Thema. Zu viel Nähe oder zu viel Distanz: Die einen suchen das Weite, wenn die Putzkraft kommt. Verstecken sich irgendwo in einem Café. Die anderen bauen gleich eine Freundschaft fürs Leben auf.
Geht es nicht irgendwie professioneller?
Ich setze mich an den Laptop. Nachdem das Internet in fast allen Bereichen vom Buchkauf bis zum Geschlechtsverkehr zwischengeschaltet ist, drängelt es sich ja nun auch in die private Haushaltsführung. Helpling ist eines dieser Start-ups, die sich seit gerade mit Plakatwerbung und Onlinebannern eine Schlacht um einen wachsenden Markt liefern: Onlinevermittlung von Putzhilfen. Auf einer Website gibt man in der Suchmaske Name und Adresse ein, wählt Datum, Zeit- und Zahlungsrahmen. Und Bing: Spuckt die Schicksalslotterie einen Menschen aus, der einem zu Hause hilft, gegen Schmutz, Apathie und Tatenlosigkeit zu kämpfen. Drei Stunden lang für 47 Euro, inklusive Versicherung. Einen Teil des Rechnungsbetrages kann man von der Steuer absetzen und der ganze Buchungsvorgang, so verspricht es die Seite, soll sage und schreibe 60 Sekunden dauern. Perle on demand!
Und dann passiert erst mal gar nichts. Warten auf die angekündigte Bestätigungsmail. Betrachten von aufwändig produziertem Reinigungs-Content auf der Helpling-Seite. YouTube-Clips, Putz-News, einer Forsa-Studie: Mehr als die Hälfte der Deutschen wollen Flüchtlingen schnellen Zugang zu einfachen Jobs wie Putzen ermöglichen. In der Zeit, in der man hier sitzt, hätte man mindestens einen Kleiderschrank auswaschen oder ein Start-up gründen können. Bis man dann doch auf die Idee kommt, das etwas schief gelaufen sein könnte trotz aller Easy-Perfektion: Sämtliche Helpling-Bestätigungsmails waren im Spamordner gelandet. Im Müll, ausgerechnet.
Doch die Schicksalslotterie hat funktioniert: Der Helpling ist ein Mann und er heißt Lucio mit Vornamen. Er hat eine Mobilnummer und man kann ihn kontaktieren, wenn es Probleme gibt. Helpling, das klingt nach Helferlein, dem Elektro-Homunculus des Daniel Düsentrieb.
Offenbar brauchen wir das Gefühl, dass es kleine Zauberwesen sind, die die Probleme lösen, die wir selbst nicht in den Griff bekommen. Haushaltsfee heißt eine App, die mit Push-Nachrichten an Putzaufgaben erinnern, Kobold ein Saugroboter, der über den Wohnzimmerteppich rotiert, während man im Büro sitzt. Theoretisch könnte ich einen selbstreinigenden Backofen haben und eine Waschmaschine, mit der ich via Smartphone über den besten Schleudergang verhandle. Praktisch müsste trotzdem jemand die Zahnpastareste vom Waschbeckenrand wischen.
Deswegen habe ich jetzt ein Internet-Blind-Date mit einem lebendigen Unbekannten. Ich stehe auf dem Balkon und warte auf ihn. Unten, auf dem Trottoir Berlin-Neuköllns, nichts als Schmutz und eine komplette Kunstleder-Sitzgarnitur in zerschlissenem Rot, die jemand einfach so dorthin gewuchtet hat. Die ganze Stadt ein Wertstoffhof.
Der Helpling klingelt und als erstes fällt mir auf, dass ich eine Leiter hätte besorgen müssen. Lucio ist höchstens 1,60 Meter groß und gerade mal zwanzig Jahre alt. Kurzes schwarzes Haar, braune Augen. Er trägt erfreulicherweise kein grünes T-Shirt wie die Damen und Herren von der Helpling-Webseite sondern schwarze Klamotten und einen Perlenohrring, der, wie sich später herausstellen soll, eher nicht gender-performativ gemeint ist sondern an den Stil von Piraten gemahnt.
So wie er aussieht, hätte ich mir wohl schenken können, das Glas mit dem Dope zu verstecken. Dennoch kommt die Scham noch einmal zurück. Einen wildfremden Menschen zu sich nach Hause bitten, damit er einem den eigenen Dreck wegmacht? Ist das nicht das Mindeste, was man für sich selbst tun kann? Warum nicht gleich einen Nacktputzer bestellen?
Fünfzehn Euro die Stunde muss ich für Lucios Dienstleistung bezahlen. Davon bekommt er nur zehn, die Firma fordert ihren Tribut. Gut nur, das sich Lucio gar nicht für Geld interessiert. Vielleicht, weil Geld sein Leben schon genug durcheinander gewirbelt hat. „Ich war sechs Jahre alt, als wir Argentinien verlassen haben, um nach Italien zu gehen – dem Land meiner Großeltern. Damals war Argentinien bankrott“, erklärt er mir, nachdem ich ihn gefragt habe, woher er kommt.
Auf Englisch, denn Deutsch spricht er noch nicht. Auch einer der Gründe warum er putzt. „Die Alternative wäre, in einem italienischen Restaurant zu arbeiten. Und das ist die Hölle. Man verdient kaum etwas und wird ständig angeschrien.“ Ich werde noch ein wenig leiser und zeige die Bioputzmittel, die ich vorsorglich gekauft hatte, um ja niemanden zu gefährden –und die Kerstin verschmähte. „Geeignete Putzmittel“ müsse man zur Verfügung stellen, so heißt es auf der Helpling-Website.
Handschuhe hat Lucio zur Sicherheit selbst mitgebracht. „Am Anfang habe ich ohne geputzt, aber das hat meine Haut nicht mitgemacht“, sagt er. Das Wohnzimmer soll er putzen und die Fenster. Es ist eine Altbauwohnung und die Decken sind über drei Meter hoch. Die Verwinkelungen und schiefen Eckchen sind sehr offenherzig in Bezug auf Verunreinigungen alle Art.
„Für die Italiener bin ich Argentinier, für die Argentinier bin ich Italiener. Wer ich bin, das kommt ganz darauf an, mit wem ich rede“, erklärt Lucio und macht sich beherzt am weißen Ikea-Bücherregal zu schaffen, das in den letzten Jahren einen unauffälligen Grauschimmer bekommen hat. Ein dünner Film aus Nikotin, Staub, Abluft der Gasetagenheizung und meiner selbst. Darf man als erwachsener Mensch in einer Wohnung mit schmutzverkrusteten Flächen leben? Gehört man dann noch zur Mittelschicht? Gut nur, dass ich Gäste immer nur nach Einbruch der Dunkelheit eingeladen hatte.
„Ich habe nichts und ich will auch nichts. Wenn man Geld hat, dann weckt es nur noch mehr Verlangen. Man will noch mehr konsumieren“, sagt Lucio und strahlt dabei wie man nur strahlen kann, wenn man zwanzig ist und einem ja ohnehin die ganze Welt gehört. Er wedelt den Staub von meinen mühsam angehäuften Besitztümern.
Woher kommt eigentlich diese braune Duftkerze? Seit wann steht die dort und warum? Sechs- bis achthundert Euro verdient Lucio im Monat und das reicht ihm, um zu leben. Er hat ein kleines WG-Zimmer im beschaulichen Berliner Stadtteil Wilmersdorf, weil es dort so schön ruhig ist. Ein Haus mit Garten, davon träumt er. Drogen nimmt er auch keine. Er habe schon genug junge Menschen gesehen, die von Berlin aus nach Norditalien zurückkehren mussten, weil sie sich den Verstand mit chemischen Drogen weggeätzt hätten. Substanzen reinpfeifen, mit denen andere ihre Autos sauber machen. GHB ist ja quasi verdünnter Felgenreiniger.
Eine eigene Wohnung, die hätte er gerne als nächstes, aber das ist schon fast Utopie im heutigen Berlin. „Ich habe alles. Schufa-Bescheinigung. Eine Bürgschaft meines Vaters – aber ich bin Ausländer und habe nur diesen Putzjob. Keiner will mich“, sagt er und es klingt unbekümmert. Er mag es ruhig und grün, nicht so, wie in Rom, wo er auf keinen Fall sein möchte. „Es ist ein Chaos, und überall ist Lärm. Autos verstopfen alles. Alles ist irgendwie verlottert. Schmutzig. In Berlin ist das anders.“ Die rote Couch unten auf der Straße muss er für eine offizielle Sitzmöglichkeit der Stadtverwaltung gehalten haben. Und was denkt er eigentlich über mich in Anbetracht meines Bücherregals? Wer hat heutzutage noch Bücherregale? Und wen er sie schon hat: Warum macht er sie nicht sauber? Verstaubte Leichen, die nicht mal alphabetisch geordnet sind.
Lucio ist Musiker, er spielt Trompete und Gitarre. Zusammen mit seinem Bruder ist er vor einem Jahr nach Berlin gekommen. „Es war ein Zufall, wir sind einfach so losgefahren. Mit dem Rucksack durch Europa – in Südfrankreich haben wir bei der Weinernte geholfen. Dann sind wir in Straßburg in einen deutschen Zug gestiegen – und die Schaffner haben uns nicht rausgeschmissen, obwohl wir kein Ticket hatten. Sie haben gelacht, weil mein Bruder aussah wie Johnny Depp in Fluch der Karibik. Und sie mochten unsere Musik.“ Was für Zeiten waren das, in denen man sogar Piraten freundlich deutsche Grenzen passieren ließ.
Lucio hatte in Italien begonnen, das Programmieren zu lernen, will vielleicht mal Anthropologie zu studieren, „man muss seinen Blickwinkel ändern, auch mal versuchen, eine Außenperspektive zu erlangen“, erklärt er, während er die Fenster von innen mit Glasreiniger und Papiertüchern bearbeitet. Derzeit, so erzählt er, lernt er tibetanische Mönchsgesänge. Tibetanische was?
Er demonstriert, was er gelernt hat. Noch nie hörte ich den Klang des Weltalls in meinem Wohnzimmer, erzeugt von der Körpermitte eines jungen Mannes mit Frosch-Glasreiniger in der rechten Hand.
Putzen hat er sich mit YouTube-Videos beigebracht
Früher, sagt Lucio, habe er beim Putzen immer Musik gehört, mit Kopfhörern. Aber das macht er schon lange nicht mehr. „Wenn man eine Weile putzt, dann kommen die Gedanken herauf wie Holzstücke von der Tiefe des Sees.“ Vielleicht, so denke ich, hat Lucio Heimweh. Vielleicht ist er ein furchtbar trauriger junger Mann. Doch schon erzählt er, dass er gerade wieder zurück ist aus Italien, Familienbesuch, „kein Problem mit Easy Jet“, erzählt er, „das kostet nicht viel bis Mailand.“
Ich weiß nicht, wie ich mein schlechtes Gewissen bei ihm an den Mann bringen kann. Er lächelt noch einmal und zeigt verfärbungsfreie weiße Zähne. Dann beugt er sich wieder über in der Spalte zwischen den Doppelkastenfenstern, die aussieht, als hätte dort eine Urnenbeisetzung stattgefunden.
Noch nie hörte ich den Klang des Weltalls in meinem Wohnzimmer, erzeugt von der Körpermitte eines jungen Mannes mit Frosch-Glasreiniger in der rechten Hand
Als das Wohnzimmer schließlich glänzt wie ein Kleinbürger sich das Schloss Charlottenburg vorstellt, fragt Lucio, ob er nicht doch noch das Badezimmer sauber machen soll. Er hat gesehen, wie es dort aussieht, nachdem ich es gründlich gereinigt habe. Aber nein, das möchte ich wirklich nicht. Mein Bad mache ich selbst sauber! Dafür steckt in mir eine zu hohe Dosis protestantischer Körperfeindlichkeit, die kein Coming-out der Welt beseitigen konnte. Hautschuppen. Ausscheidungen – das geht niemanden etwas an. Außerdem ist die Zeit, die ich online gebucht hatte, nun abgelaufen.
Warum hat mir eigentlich nie jemand beigebracht, wie man richtig putzt? Als kleiner Junge mochte ich es, wenn meine Mutter sauber machte. Es war eine Art von regelmäßig wiederkehrendem Ausnahmezustand. Alle Möbel und Einrichtungsgegenstände waren verrückt und es roch scharf und stechend nach einer chemischen Substanz. Ammoniak? Flüssiges Plutonium? Man stellte sich damals nicht so an. Später dann, in der Ablösungsphase entschied ich mich für ein punkiges Reinlichkeitskonzept, von dem ich leider nie richtig losgekommen bin. Putzverweigerung als eine Art Dauer-Demo, die sich am Ende gegen mich selbst richtete.
Lucios Vater zeigte ihm, wie man den Hof kehrt – den Schmutz immer in Richtung Ausgang. Den Rest hat er sich mit Hilfe von YouTube-Videos beigebracht. Logisch.
Als ich ihm am Schluss eine Limonade anbieten möchte, klärt er mich noch freundlich darüber auf, wie schädlich Zucker ist und dass ich mich, was das Reinigen angeht, auch auf das Innere meines Körpers konzentrieren sollte: „Lies mal was über die Fünf-Elemente-Küche!“
Als er schließlich geht, habe ich einen Vorgeschmack darauf bekommen wie es sich anfühlen könnte, wenn man später einmal auf Pflegekräfte angewiesen sein sollte. Ist es schon so weit? Sollte ich schon so zermürbt von Besitztümern und vom Zucker sein, dass ich nicht mehr in der Lage bin, meine eigenen vier Wände in den Griff zu bekommen, während Lucio weder Kapitalismus noch Spiritualismus schrecken?
„Weißt du“, hat er vorhin gesagt, „das mit dem Putzen ist einfach so: Man hat eigentlich keine Chance. Das ist ja etwas, wo man immer wieder von vorne anfangen muss. Und man soll sich gar nicht erst einbilden, dass man das perfekt hinbekommt. Man kann nur in kleinen Schritten Verbesserungen erlangen.“
Leisen Schrittes gehe ich durch meine blitzblanke Wohnung. Ich streiche zärtlich über das saubere Bücherregal. Wie schön es jetzt hier ist.
Dann nehme ich die Duftkerze und schmeiße sie in den Müll.
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