Selbstmord in Abschiebehaft: Lebensgefahr verkannt
Ein Abschiebehäftling bringt sich um, nachdem ein Psychiater die Diagnose "Suizidgefahr" verworfen hat. Nun steht der Arzt vor Gericht.
FRANKFURT/MAIN taz Eine genervte Amtsrichterin, ein 82-jähriger Angeklagter ohne Schuldbewusstsein, ein zorniger Vertreter der Nebenklage, das ist übrig geblieben vom Leben des 30-jährigen Kurden Mustafa Alcali. Er erhängte sich am Morgen des 27. Juni 2007 mit einem zerrissenen T-Shirt in seiner Abschiebezelle der Haftanstalt I in Frankfurt-Preungesheim. Der Psychiater Heinrich W. ist angeklagt, Schuld an seinem Tod zu tragen durch fahrlässige Tötung.
W. arbeitete 2007 als selbstständiger Facharzt stundenweise in der psychiatrischen Abteilung des Gefängniskrankenhauses Kassel. Der Gefangene wurde dort am 16. Juni auf Anweisung des Amtsgerichts Hanau eingeliefert. Im Gepäck hatte er einen Kurzbericht, der ihm eine paranoide Schizophrenie und Suizidgefahr attestierte.
Alcali hatte sich im Mai in der Fußgängerzone in Hanau mit Benzin übergossen, Passanten bespritzt, getobt und gedroht, sich und andere anzuzünden, weil er in die Türkei abgeschoben werden sollte. Er wurde in die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Hanau gebracht. Dort untersuchten die Ärzte den verwirrten Mann, der schon vorher psychiatrisch behandelt worden war und an Wahnvorstellungen litt. Sie bescheinigten ihm, dass er schwer gestört sei, und wollten ihn weiterbehandeln lassen. Das Hanauer Amtsgericht ordnete stattdessen an, dass er zwecks Vorbereitung der Abschiebung nach Kassel verlegt wird.
Heinrich W. quittierte seinen Dienst nach 53 Berufsjahren im Todesmonat von Alcali. Er sagte vor Gericht aus, er habe sich mehrfach mit dem Gefangenen unterhalten und keine Suizidgefahr feststellen können. Der vorbestrafte Angeklagte, der schon einmal abgeschoben worden war, habe normal gewirkt. Vielleicht habe er Angst vor der Abschiebung gehabt und aus seiner Isolierzelle herausgewollt.
Alcali habe ihm Geschichten von der Ausbildung als PKK-Kämpfer erzählt, von Fahnenflucht, Geheimdienstkontakten und abenteuerlicher Rückkehr zur Familie nach Deutschland. Im Irak und in den Niederlanden sei er einer Gehirnwäsche unterzogen worden. Er habe heiraten wollen. Hellhörig sei er bei dem Hinweis geworden, erklärte W., dass Alcali öfter gekifft habe. Er kenne die von Hanauer Kollegen beschriebenen Symptome. Sie seien die Folge von Haschischrauchen "wie aus dem Handbuch für Drogenabhängige".
W. hielt seinen Patienten für reisefähig, Rücksprache mit der Hanauer Psychiatrie nahm er nicht. Deren völlig andere Einschätzung erklärte er zum Gefälligkeitsgutachten von "Gutmenschen", die ihn, den Erfahrenen, hereinlegen wollten: "Ich war misstrauisch! Ich kannte meinen Pappenheimer!" Und: "Ich fühlte mich auch ein bisschen verletzt, weil ich davon ausging, dass die mich für einen Idioten halten." Er schickte Alcali auf Abschiebetransport nach Frankfurt.
Warum er ihm allerdings trotzdem starke Psychopharmaka mitgab, blieb im Gerichtssaal ungeklärt. Die Krankenakten aus Kassel und Frankfurt sind dürftig. W. erinnerte sich, er habe verordnet, dass der Patient seine Medizin "bis zum Flughafen" nehmen solle, weil sie "dämpfend" wirke - und "falls doch Suizidgefahr" bestehe.
Fest steht, dass der Frankfurter Gefängnisarzt Knut S. den Neuankömmling auf Bitten des Wachpersonals untersuchte, dem der Mann auffiel. Er setzte die Medikamente auf einen Schlag ab. Dass eine solche abrupte Unterbrechung der Einnahme starker Psychopharmaka fatale Wirkung haben und verstärkend auf psychische Leiden wirken kann, berücksichtigte er nicht. Rechtsanwälte und Ärzte, die parallel versuchten, die Kette der Fehlentscheidungen zu revidieren, kamen zu spät. Das Urteil wird für diesen Donnerstag erwartet.
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