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Sehen oder nicht sehen Von Klaudia Brunst

Ich hatte mir die Sache wirklich nicht leichtgemacht. Schon aus optischen Gründen. Denn für Leute, die wirklich eine Brille brauchen, ist es ziemlich schwer, sich eine Brille zu kaufen. Man sieht nämlich nichts. Ohne Brille. Meine Fehlsichtigkeit – ich kann das hier ruhig einmal offen aussprechen – schenkt mir einen Blickwinkel von ungefähr zehn Zentimetern. Ohne Brille. Es ist schon ziemlich niederschmetternd, beim Optiker in diesem Abstand vor dem Spiegel zu stehen. Üblicherweise mache ich das nur, um meine Pickel zu begutachten. Zu Hause, wenn mich keiner sieht. Und ohne Brille.

Kurzum: Solange ich mich für keine neue Brillenfassung entschieden habe, kann ich nicht wirklich abschätzen, wie mir die neue stehen wird. Um so nervöser bin ich natürlich, wenn sie dann endlich fertig ist – und ich zum ersten Mal begutachten kann, ob ich mich richtig entschieden habe.

Jede noch so kleine Äußerung meiner Umgebung wird in einer solchen Situation zu einem wichtigen Statement. Letzte Woche also war es soweit: Schon morgens quälte mich eine tiefe Sinnkrise. „Wird schon werden!“ verabschiedete mich meine Freundin fürsorglich an der Tür. „Ich liebe dich – egal, wie du aussiehst.“ Ein Trost immerhin, wenn auch ein schwacher. Eine halbe Stunde später verließ ich noch etwas unsicher im Tritt (und in meiner Selbstwahrnehmung) das Optikergeschäft, schaute hier heimlich in ein Schaufenster, dort offensiv in das Gesicht der Passanten, um zu ergründen, wie es nun um mich und meine Brille stünde. In der Redaktion angekommen, hatte ich bereits schweißnasse Hände, überlegte kurz, ob ich die Stunde der Wahrheit nicht vielleicht doch besser auf später verschieben sollte, gab mir dann doch einen Ruck und der Haustür einen Stoß: Jetzt oder nie! Sekt oder Selters! Triumph oder Niederlage!

„Hallo, Klaudia!“ begrüßte mich der Kollege am Counter. „Siehst heute etwas blaß aus. Geht es dir nicht gut?“ Ein Stockwerk weiter begegnete mir die Kollegin von der Wahrheit. „Hey! Warst du beim Friseur? Schick.“ Mit zitternden Händen fühlte ich durch die Jackentasche nach meiner alten Brille. Sollte ich vielleicht doch...? Aber wäre dann nicht die ganze Investition vergebens gewesen. Über vierhundert Mark in den Sand gesetzt? Auch irgendwie keine Lösung. Tapfer erklomm ich weiter Stiege für Stiege das taz-Haus, hörte freundliche Worte über mein „schickes Hemd“, meine alten Lloyd-Schuhe und immer wieder über meine angeblich neue Frisur. Zugegeben: Ich hatte mir morgens die Haare gewaschen. Aber machte ich das nicht sowieso alle zwei Tage? Meine letzte Rettung schien die Grafikabteilung zu sein. Hier sitzen immerhin zwei professionell ausgebildete Designerinnen. Sie müßten es doch nun wirklich sehen. Betont beiläufig hockte ich mich auf das Sofa und erkundigte mich nach dem Befinden der beiden Frauen. Wir saßen so da und redeten über dies und das (natürlich kein Wort über meine Brille!), da störte eine Kollgin aus dem Vertrieb mit einer Frage unsere Runde. „Schöne Brille übrigens“, warf sie mir – schon wieder im Gehen – über die Schulter zu. „Endlich merkt es mal jemand!“ platzte es da aus mir heraus. „Ach“, meinten daraufhin die beiden Grafikerinnen. „Brauchst du neuerdings eine Sehhilfe?“

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