: Seelische Ausnahmezustände
■ Mit Neurosis, Voivod und Today Is The Day kommen die drei Könige des Extremismus. Ein Wörterbuch der Metal-Psychologie
Neurose: Hauptsächlich durch Fehlentwicklung des Trieblebens und durch unverarbeitete seelische Konflikte mit der Umwelt entstandene krankhafte, aber heilbare Verhaltensanomalie mit seelischen Ausnahmezuständen.
Katharsis: Sichbefreien von seelischen Konflikten und inneren Spannungen durch emotionale Abreaktion.
Heavy Metal: klangliche und strukturelle Verdichtung von Rock unter Maxime des „Lauter, Schneller, Härter“. Unterteilt in diverse Subgenres mit unterschiedlicher Gewichtung der dichotomen Ansätze Hard-rock und Industrial Noise, von denen hier die in letzterem Sinne ausformulierten Bezeichnungen Thrash-, Death-, Doom- und Progressive-Metal zum Tragen kommen.
Hardcore: künstlerisch-aufbegehrender Ausdruck einer zumeist politisch motivierten Underground-Szene. Musikalisch eine Verdichtung und Ausdifferenzierung von Punk mit komplexeren Strukturen und geringerem melodischen Anteil. Verästelung/Extremisierung in Grindcore oder Crustcore.
Neurosis: kalifornisches Quartett mit linker Hardcore-Vergangenheit. Metallischste Vertreter von Jello Biafras Alternative Tentacles-Familie, mittlerweile gewechselt zu dem progressiven Extremisten-Label Relapse. Einzigartige Interpretation von Hardcore und Noise in langsamen, tribalen Doom-Strukturen. Auf Katharsis zielende Prediger opulenter, multimedialer Untergangsszenarien.
Today Is The Day: 1992 gegründetes Noiserock-Trio aus Detroit. Transzendieren durch beständige Weiterentwicklung alle musikalischen Begrifflichkeiten wie Progressive, Grindcore und Psychedelic in eine elektrische, klanglich verdichtete Idee von musikalischem Horror und Freejazz.
Voivod: kanadisches Trio, gegründet Mitte der 80er und damit zur Blütezeit des Thrash-Metal. Science-Fiction-Jünger und Technologie-Kritiker. Als musikalisch traditionellste und gemäßigste Vertreter dieses Paketes liegen ihre Stärken in ebenso beängstigenden wie faszinierenden Szenarien post-nuklearen Lebens.
Zusammenfassung: die unheiligen Drei Könige des individualisierten musikalisch-künstlerischen Extremismus graben in menschlichen und gesellschaftlichen Untiefen. Je nach seelischer Ausgangslage (siehe oben) werden jene, die sich alle drei Geschenke darbringen lassen, danach große Probleme haben – oder aber überhaupt keine mehr. Voraussetzung: Schmerz kann Vergnügen sein.
Holger in't Veld
So, 10. Oktober, 21 Uhr, Logo
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen