■ Seehofer will die Sozialhilfesätze nach unten nivellieren: Die Arroganz der Tabubrecher
Wenn Koalitionspolitiker derzeit ankündigen, bei der Sozialhilfe dürfe es „keine Tabus“ mehr geben (so der CSU-Gesundheitspolitiker Zöller), kann man sich meist auf einiges gefaßt machen. Die Selbstinszenierung als Tabubrecher, der mutig gegen ideologische und bürokratische Verkrustungen ankämpft, wurde einst in den 70ern von der libertären Linken erfunden und mit einigem Erfolg benutzt. Inzwischen ist dieses Bild Allgmeingut geworden – und zum Schutzschild, um gröbsten Unfug unter die Leute zu bringen.
So fuchteln derzeit manche mit dem Tabuargument in der Gegend herum – und zielen auf den Sozialstaat. Der CSU-Mann Wolfgang Zöller brachte mal wieder das Lohnabstandsgebot in Stellung: Ein Unding, daß ein Facharbeiter mit Familie weniger verdiene als ein Sozialhilfeempfänger mit Familie. Mag sein, daß es dies gibt – bei äußerst hohem Mietzuschuß in Großstädten. Die Regel ist es keineswegs. Doch den äußersten Extrem- als den Normalfall zu verkaufen ist ein erprobtes Agitprop-Mittel.
Das Bild, das sich somit zusammensetzt, sieht so aus: Wer Sozialhilfe bezieht, liegt faul im sozialen Netz und bekommt zu alledem mehr Geld als der arbeitssame Durchschnittsbürger. „Cleveren Mißbrauch“ entdeckte unlängst Alois Glück (CSU) bei ledigen Müttern. Weil das nicht so weitergehen darf, will Gesundheitsminister Seehofer die Sozialhilfe kürzen. Oder vielmehr etwas eleganter: Seehofer will die kommunal unterschiedliche Sozialhilfe bundesweit angleichen – ein durchaus bedenkenswerter Vorschlag – und dabei natürlich nach unten nivellieren.
Mögen nun Zöller & Co. auch alles nicht so gemeint haben – die Richtung ist klar. Und der Mechanismus, nach dem solche Debatten verlaufen, ist leider vorhersehbar. Was heute noch ein bedauerliches Mißverständnis ist – wie Zöllers nun dementierter Vorschlag, die Sozialhilfe für Kinder zu kürzen –, wird, einmal in die Debatte eingeführt, auch wieder auftauchen. Diese Attacken verraten eine Gesinnung, die das Gegenstück zu jenem Sozialneid ist, der gern den Unterklassen bescheinigt wird. So spricht eine politische Arroganz, die glaubt, mit der Mehrheit im Rücken nach unten treten zu dürfen. Das aber hebelt den Sozialstaat aus, der im 19. Jahrhundert geschaffen wurde, um persönliches Unglück und soziale Risiken abzufedern. So scheint derzeit das Prinzip des Sozialstaates selbst, nämlich daß die Mehrheit in Not Geratene zu schützen hat, unter ideologischen Beschuß zu geraten. Das aber sollte, ebenso wie die soziale Demagogie, ein politisches Tabu bleiben. Stefan Reinecke
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