: Schwierigkeiten mit »Denkmal« Anna Seghers
■ Bei einer Diskussion in der Akademie der Künste Ost ging es um das literarische Denkmal der DDR
Berlin. Heiner Müller schickte ein Gedicht, Christa Wolf ließ sich krankheitshalber entschuldigen, Stephan Hermlin war mit einigen seiner ostdeutschen Schriftstellerkollegen gekommen, um in der Akademie der Künste zu Berlin Ost am Sonntag abend über die einstige »literarische Heiligenfigur der DDR«, Anna Seghers (1900-1983) am Vorabend ihres 90. Geburtstages offene Worte zu wechseln. Die »Neubewertung« der Person — nicht des Werkes — setzte in der früheren DDR im vergangenen Jahr ein, als Walter Janka in seinem Buch Schwierigkeiten mit der Wahrheit den Vorwurf erhob, die Autorin von Büchern wie Das siebte Kreuz und Transit habe in dem Prozeß gegen die »Gruppe Harich/ Janka« 1957 geschwiegen, wider besseres Wissen.
Hermlin meinte zunächst, er sei froh, daß Anna Seghers »nicht 90 Jahre alt geworden ist, daß sie diesen Tag nicht erlebt hat und die Schmach derjenigen, die sie zu schmähen wagen, die das grandiose Werk, das 1933 auf deutsche Scheiterhaufen kam, noch einmal verbrennen und die nach ihr benannte Straßen umbenennen«, und unter großem Beifall des Auditoriums rief er: »Mögen die selbsternannten Richter, die Selbstgerechten verstummen!« Dann aber räumte auch er ein, daß die große Autorin »einmal geschwiegen hat, wo sie hätte sprechen sollen«.
Anna Seghers war wie einige andere Schriftsteller von der SED-Führung zu dem Schauprozeß als Zuhörer geladen worden, Hermlin übrigens nicht, wie er betonte. »Sonst hätte ich etwas gesagt, wenn ich etwas gewußt hätte. Daß sich niemand als Entlastungszeuge gemeldet hat, verstehe ich bis heute nicht.« Es hätte jemand sagen können, daß Janka kein »Hoch- und Landesverräter« gewesen sei. Er habe sich immer gewünscht, daß Anna Seghers oder der damalige Kulturminister Johannes R. Becher sich als Entlastungszeugen angeboten hätten. Es handle sich um ein Schweigen von möglichen Zeugen.
Günter Görlich bescheinigte Anna Seghers, sie habe mit ihrer Menschlichkeit viele Menschen beeinflußt. »Wie oft sprach sie im Schriftstellerverband über Mißstände und menschliche Tragödien, und sie hat eingegriffen, sich eingesetzt, wo sie konnte.« Es bleibe aber die Frage offen, warum sie einer Sache treu geblieben sei, »als schon die Risse und Brüche in Gesellschaft und Staat deutlich zu erkennen waren« und sich die Frage stellte: »Wann verkam politische Disziplin zum blinden Gehorsam? Wie kam es zu dem Irrtum, eine Gesellschaft, die ihre Ideale mehr und mehr verriet, durch leise Reformvorschläge bessern und verändern zu wollen? Doch der Preis mußte bezahlt werden.«
Die Tochter der Schriftstellerin, Ruth Radvanyi, berichtete, daß ihre Mutter mit ihr nie über diese Angelegenheit gesprochen habe. »Ich wundere mich, daß auch die Schriftsteller untereinander darüber nicht sprachen.« Anna Seghers war eben, wie ein Zuhörer einwarf, ein »Standbild, eine unangreifbare Größe« in der früheren DDR, in der allüberall jene »Furcht vor der Abweichung« grassierte, aber: »Eine Heldin ohne Fehl und Tadel kann man nicht lieben. Das ist das Krebsgeschwür unserer alten Kulturpolitik.« Wilfried Mommert (dpa)
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