Schwierige Regierungsbildung in Belgien: Zwei Teile, kein Ganzes
Seit Mai sucht Belgien eine neue Regierung. Doch Flamen und Wallonen streben immer weiter auseinander – zum Beispiel in der Kleinstadt Ninove.
Homans sieht nicht so aus, als betrübe sie dieser Befund. Im Gegenteil: Sie fordert „eine weitere Anpassung unserer Staatsstruktur“, und alle im Publikum wissen, was damit gemeint ist: noch mehr Macht für Belgiens so unterschiedliche Regionen, weniger für die gemeinsame Regierung. „Eine Reform“, so Homans, „bei der Flamen und Frankofone festlegen, was sie noch zusammen verwalten wollen, und alles Übrige muss aufgeteilt werden!“ Das Publikum vor dem Rednerpult, das eine Fahne mit dem flämischen Löwen umhüllt, applaudiert lange. Aufteilen, zumal wenn es um die politischen Strukturen Belgiens geht, das schätzt man hier.
Was die kaum lösbare Regierungsbildung betrifft, hat die Politikerin der seperatistischen Neu-Flämischen Allianz einen Punkt für sich. In den letzten Monaten hat sich eine seltsame Stille wie eine schwere, träge Wolkenschicht über das Land gelegt. Didier Reynders und Johan Vande Lanotte, zwei altgediente ehemalige Minister, sind vom König mit der Vermittlung beauftragt worden. Inhaltlich ist wenig über den Verlauf bekannt. Doch dass ihre Chancen gering sind, haben alle Kommentatoren zu Genüge betont. Anfang Oktober müssen sie am Hof Bericht erstatten.
Was das belgische Puzzle so komplex macht, zeigen die Grundströmungen beiderseits der Sprachgrenze: Wallonien driftet nach links, Flandern nach rechts. Eine Zentrifuge, über die Raoul Hedebouw so einiges zu sagen hat. Seine Partei ist die einzige, die über die Sprachgrenze hinweg vereint ist, auch wenn sie unter zwei Namen firmiert: Parti du Travail de Belgique heißt sie im Süden, Partij van de Arbeid im Norden, abgekürzt PTB-PVDA. Sie ist marxistisch orientiert, und sie befindet sich im Aufschwung. Wobei das eine Untertreibung ist: von zwei auf 12 der 150 Sitze sprang sie im nationalen Parlament, gewann drei flämische dazu und sieben frankofone, das beste Ergebnis ihrer Geschichte. Hedebouw, mit Anfang 40 schon seit mehr als zehn Jahren Parteisprecher, ist das Gesicht dieses Erfolgs.
Die Teilung: Ergebnis unsozialer Politik?
An einem sonnigen Morgen sitzt er gut gelaunt in seinem Stammbistro. Um die Ecke liegt das Parteibüro der Provinz Liège. Raoul Hedebouw sitzt im Stadtrat und leitet im Brüsseler Parlament die Fraktion. Was die Gründe sind für den Aufschwung seiner Partei? „Die Wirtschaftskrise, unter der die Menschen leiden. Die traditionellen Parteien bieten keine Antwort darauf. Zudem haben wir den PTB in den letzten zehn Jahren aufgebaut, in Stadtvierteln und Betrieben. Von 2.500 ist unsere Mitgliederzahl auf 18.000 gestiegen.“
Regieren, soviel ist klar, wird der PTB-PVDA nicht. Auf föderalem Niveau ist sie ohnehin nicht kompatibel. Regional, in der Wallonie, sind Gespräche mit der Sozialistischen Partei gescheitert. „Sie haben die europäischen Privatisierungsrichtlinien mitgetragen, gehen nicht gegen das Gesetz des Markts an und folgen dem globalen Wind des Liberalismus“, kritisiert Raoul Hedebouw die Sozialdemoraten. Der PTB-PVADA dagegen wolle zu sozialpolitischen Zwecken wie dem Wohnungsbau „den Stabilitätspakt zur Seite schieben, so wie man es zur Bankenrettung getan hat“.
Bemerkenswert ist, wie er die belgische Situation analysiert: Beiderseits der Sprachgrenze drücke das Wahlergebnis Unmut über die unsoziale Politik der letzten Jahre aus. In der traditionell sozialdemokratischen Wallonie, geprägt von der Kultur einer starken Arbeiterklasse, kanalisiere seine Partei diesen Protest. „Im tendenziell konservativen Flandern hat die Rechte das Anti-Establishment-Gefühl gekapert.“ Wobei er betont, dass auch der rechtsextreme Vlaams Belang im Wahlkampf auffallend auf soziale Aspekte setzte.
Der Stillstand dieses Sommers macht Raoul Hedebouw Sorgen. Er hofft, dass daraus keine Situation wie 2010/2011 wird, als Belgien anderthalb Jahre ohne neue Regierung blieb. Zugleich befürchtet er, die Neu-Flämische Allianz als stärkste Partei im Norden aus der Blockade Kapital schlagen könne um schlussendlich zusammen mit den Sozialdemokraten über die Umwandlung Belgiens in eine Konföderation zu verhandeln. Besonders gefährlich nennt er die latente wirtschaftliche Krise. Acht Milliarden Euro beträgt das Loch im Haushalt von 2020: „Daraus wird schnell eine politische Krise, gerade wenn Nationalismus mitspielt.“
Ninove, Hochburg der Rechtsradikalen
Wenn die Zutaten „Krise“ und „Nationalismus“ aufeinandertreffen, denkt man in Belgien schnell an Ninove. Die Kleinstadt in der Provinz Ostflandern liegt im Denderland, einer Region mit hohen Sympathiewerten für die flämischen Nationalisten. Ninove ist so etwas wie ein Symbol für das Comeback des rechtsextremen Vlaams Belang, der vor wenigen Jahren erst von der moderateren Neu-Flämischen Allianz elektoral geschluckt zu werden schien. Und für die vermeintlich undemokratische Ablehnung, welche die Partei vom politischen Establishment erfährt.
Bei den Kommunalwahlen im Jahr 2018 landete die rechte Lokalpartei Forza Ninove, angeführt von Guy D’haeseleer, in Ninove einen Erdrutschsieg. Doch der cordon sanitaire, das 30 Jahre alte Abkommen der übrigen flämischen Parteien, nicht mit der extremen Rechten zu koalieren, blieb erhalten. D’haeseleer wurde nicht Bürgermeister – und stattdessen wird Ninove nun von einer ganz großen Koalition regiert. Mit dem Ergebnis, dass der Vlaams Belang bei den föderalen Wahlen im Mai nur knapp unter der absoluten Mehrheit blieb.
Aber nun müsste Vlaams Belang doch endlich regieren, so denken viele in Ninove, der „Stadt mit menschlichen Maßen“, wie es auf den Aufklebern auf den öffentlichen Abfalleimern im Zentrum heißt. Das findet auch der Rentner, der an einem Nachmittag in der Einkaufsstraße auf seine Frau wartet. Seinen Namen mag er nicht nennen, aus seiner politischen Präferenz macht er dagegen keinen Hehl. „Vlaams Belang. Und es war keine Protestwahl!“ Er weiß um das politische Patt in Belgien. Eine Lösung erwartet er nicht. Wichtiger sei für ihm, dass endlich der cordon sanitaire gegen den Vlaams Belang fällt. „Solange werden wir weiter Druck machen.“
Auch die Jugend tendiert nach rechts
In Ninove zeigt sich auch, wie weit der Vlaams Belang in den flämischen Mainstream vorgedrungen ist. Man würde in dem jungen Mann, der einen Ohrstecker trägt und ein Skateboard unter den Rucksack geklemmt, nicht unbedingt jemanden vermuten, der rechtsextrem wählt. Doch genau dies tat der Schüler, der sich als Ruben Van Berlamont vorstellt – und ein Neffe Guy D’haeseleers ist. „Die ganze Familie hat seine Partei gewählt. Nicht nur wegen ihm, sondern auch, weil hier zu viele Ausländer sind, die nur Leistungen beziehen wollen.“
Der 18-jährige Ruben Van Berlamont ist auch das Kind einer Zeit, in der sich belgische Politik zunehmend nur noch auf ihre eigene Seite der Sprachgrenze bezieht. In der es zum Normalzustand geworden ist, dass eine föderale Regierung in diesem Land nur noch unter größten Komplikationen entsteht. Die einst unantastbare Bedingung, dass die Regierung eine Mehrheit in beiden Sprachgruppen repräsentiert, ist schon lange nicht mehr unantastbar. Ist es verwunderlich, dass er, gefragt nach der Zukunft des Landes, schulterzuckend sagt, es werde „schon noch mal danebengehen“. Viel zu kümmern scheint es ihn ohnehin nicht.
„Belgien, who gives a shit?“, lautet denn auch der zynische Titel eines Kommentars von Carl Devos, eines der renommiertesten Politologen des Lands, in der Tageszeitung De Morgen. Mitte August hat die Neu-Flämische Allianz ein Programm verabschiedet, das sie als Grundlage für Koalitionsverhandlungen ansieht – in Flandern. Es stellt eine Konzession an den Vlaams Belang dar, dessen Forderungen immer kompatibler werden: strengere Einbürgerungsregeln, begrenzter Zugang zu Sozialleistungen für Migranten, ein flämischer Kanon der Geschichte. Überhaupt ist auffällig, dass die Region Flandern konsequent als „Nation“ bezeichnet wird. Auf föderaler Ebene wird die Koalitionsbildung dadurch nur noch schwieriger, sagt der Politologe Devos.
Man muss kein Prophet sein, um ihm Recht zu geben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel