Schweigemarsch in Argentinien: „In diesem Land ist alles möglich“
250.000 gehen in Buenos Aires für eine „unabhängige Justiz“ auf die Straße und erinnern an Alberto Nisman. Aufgerufen hatten mehrere Staatsanwälte.
BUENOS AIRES taz | Über dem Kongressgebäude der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires ziehen dunkle Wolken auf. Windböen fegen über die Plaza de los dos Congresos. Seit Wochen hat es schon nicht mehr geregnet. „Und ich dachte, die Regierung hat die Wettervorhersage manipuliert, damit nicht so viele Leute kommen.“ Dante Capruzzio holt vorsorglich den Regenschirm aus seinem Rucksack. „In diesem Land hältst Du mittlerweile alles für möglich.“
Sechs Staatsanwälte hatten zum Gedenken an den vor genau einem Monat tot aufgefundenen Staatsanwalt Alberto Nisman aufgerufen. Der 51-jährige war am 18. Januar erschossen in seiner Wohnung aufgefunden worden. Bis heute sind die genauen Umstände ungeklärt. Als Sonderstaatsanwalt war Nisman seit 2004 für die Aufklärung des Anschlags auf das AMIA-Gebäude im Jahr 1994 zuständig. Für die Tat mit 85 Toten macht die argentinische Justiz den Iran verantwortlich. Nisman hatte wenige Tage vor seinem Tod Präsidentin Cristina Kirchner und Außenminister Héctor Timerman beschuldigt, die Ermittlungen gegen die mutmaßlichen iranischen Drahtzieher des Anschlags zu verschleiern.
Der Marsch setzt sich in Bewegung, die ersten Tropfen fallen. Stop-and-Go auf der Straße, am Himmel öffnen sich alle Schleusen. Ein Meer von Regenschirmen zwischen Kongress und Casa Rosada, dem Sitz der Präsidentin. Immer wieder brandet rhythmisches Klatschen auf, hallt wider aus den engen Seitenstraßen der Avenida de Mayo. Rufe nach Gerechtigkeit, Landesfahnen mit Trauerflor, die Nationalhymne wird gesungen. Doch die Szene bestimmen die hunderttausend Regenschirme, der prasselnde Regen unterstreicht das Schweigen der meisten.
Regierungstreue Politiker und Organisationen sind nicht dabei. Regierungskritische Gewerkschaften und die politische Opposition riefen dagegen zur Teilnahme auf, verzichten jedoch auf politische Embleme und Transparente. Alle namhaften Oppositionspolitiker reihen sich hinter den an der Spitze gehenden Staatsanwälten und Familienangehörigen Nismans ein.
Kein Zweifel am Mord
„Nisman wurde ermordet.“ Dante Capruzzio hat daran keinen Zweifel. „Zu Menems Zeiten,“ sagt der pensionierte Geschichtslehrer, „starben Zeugen merkwürdige Tode, die Licht ins Dunkel der Machenschaften seiner Regierung hätten bringen können. Jetzt sind nicht einmal mehr die Staatsanwälte sicher.“ Für Capruzzio ist das eine wesentliche Unterscheidung zwischen der Präsidentschaft von Carlos Menem in den 1990er Jahren und dem Ende der Ära der Kirchners. „Das Ausmaß der Straflosigkeit ist so erschreckend, es macht immer mehr Menschen Angst.“
In den Tagen nach dem Tod des Staatsanwalts war die Präsidentin abgetaucht. Offiziell kurierte sie in der Präsidentenresidenz im Hauptstadtvorort Olivos eine komplizierte Knöchelverletzung aus. Bis heute hat sie den Angehörigen nicht das Beileid ausgesprochen. Zunächst unterstützte sie die Selbstmordthese, wechselte dann aber über zu einem Mordkomplott, das eigentlich gegen sie und ihre Regierung gerichtet war.
Hinter den Kulissen versuchte die Regierung dem Marsch zu verhindern, spielte öffentlich seine Bedeutung herunter und drohte den Staatsanwälten gar mit Disziplinarmaßnahmen. Als das keinen Erfolg brachte, goss die Präsidentin Öl ins Feuer: „Wisst ihr was? Wir bleiben beim Singen, wir bleiben bei der Fröhlichkeit, wir bleiben bei dem Ruf ,Es lebe das Vaterland!' Und ihnen, ihnen überlassen wir das Schweigen,“ sagte sie vor gut einer Woche während einer live übertragenen Fernsehrede aus der Casa Rosada vor ihren jubelnden Anhängern.
„Ein ungeheuerlicher Affront, aber aus ihrer Sicht ist das geschickt,“ sagt Dante Capruzzio. „Sie konnte den Marsch nicht verhindern also spielte sie wie üblich die Polarisierungskarte aus, um die eigenen Reihen zu schließen. Hier sind wir, und dort marschieren unsere Gegner.“
Die Kirchners haben die Bevölkerung gespalten
„Die ganze Kritik der Regierung an dem Marsch hat ihn gewaltig unterstützt,“ sagte Staatsanwalt José María Campagnoli, einer der Staatsanwälte, die zum Schweigemarsch aufgerufen haben. „Das Ganze hat ein Ausmaß angenommen, dass ich mir nie vorstellen konnte.“
Was als Ehrung für einen toten Kollegen gedacht war, wurde zu einer der größten Demonstrationen der letzten Jahre. 400.000 seien gekommen, meldete später die Hauptstadtpolizei, die dem oppositionellen Bürgermeister Mauricio Macri untersteht. Nur 80.000 seien es gewesen, verkündet dagegen die Bundespolizei, die der Regierung untersteht. Der wirklichen Teilnehmerzahl am nächsten dürfte jedoch die Deutsche Presseagentur kommen, die sie auf 250.000 Personen schätzte. Dabei waren es deutlich mehr Frauen als Männer.
Durch die Scheiben der Cafés entlang der Avenida leuchten die Plasmabildschirme. Fernsehbilder aus Rosario, Córdoba, Santa Fe und Mar de Plata. Landesweit sind Menschen auf der Straße. ´Wahrheit und Gerechtigkeit' wird allerorten eingefordert. „Niemand fordert wirklich etwas von der Präsidentin,“ sagt Dante Capruzzio. „Hier marschiert vor allem die Ober- und Mittelschicht. Und die erwartet von dieser Präsidentin nur noch eins, dass sie im Dezember das Amt übergibt.“ Die Kirchners haben die Bevölkerung gespalten, der Schweigemarsch „ist keine apolitische Sache,“ so Capruzzio.
Nismans Nachfolger, Staatsanwalt Gerardo Pollicita, hat die Anzeige gegen die Präsidentin beim zuständigen Richter erneut eingereicht. Ein Richter muss nun entscheiden, ob die Verdachtsmomente ausreichen, um Ermittlungen gegen Kirchner aufnehmen zu können.
Dante Capruzzios Regenschirm hält nicht mehr dicht. Durchnässt wie so viele erreicht er die Plaza de Mayo. Eine Schweigeminute vor dem Gebäude an der Plaza de Mayo, in dem sich Nismans Büroräume befanden, bildet den Abschluss. „Ich glaube nicht, dass wir je erfahren, was wirklich passiert ist.,“ sagt Capruzzio.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid