: Schwebende Meditationen
■ Das Metropolis zeigt in seiner Werkschau anlässlich des 80. Geburtstags von Pier Paolo Pasolini zwei seiner „ideologisch-politischen“ Filmessays aus den 60er Jahren
Notizen macht sich, wer Flüchtiges fixieren will, wer fürchtet, ohne eine Niederschrift etwas zu verlieren. Mythische Stoffe sind ursprünglich gar nicht fixiert. Sie haben weder einen Schöpfer, noch gibt es ein originäres Schriftbuch, und meistens wurden sie mündlich und von Fall zu Fall überliefert. Den Zeitenwechsel haben sie überdauert, weil – so wird gesagt – sie einen ewig gültigen Kern haben, der sich in wiederholbaren Aufführungen stabilisiert; darin sind sie kultischen Handlungen vergleichbar.
Verschiedene Dichter haben mythische Stoffe mit Veränderungen und unterschiedlichen Schwerpunkten bearbeitet. Doch trotz der dem Mythos innewohnenden materialen Elastizität ist da doch ein Kern, ein dramaturgischer Dreh- und Angelpunkt, der unangetastet bleiben muss, damit sich die Semantik erhält. Die dichterische Übertragung, wie frei sie auch sein möge, muss den energetischen Funken der Erzählung transportieren, sonst zerstäubt das Überzeitliche und Ewig-Wahre daran wie eine schillernde, doch nichts sagende Seifenblase. Der Dandy Cocteau hat diesen Balanceakt mit seiner provokanten Ödipusversion Die Höllenmaschine brillant vorgeführt.
Dichter um Dichter schreibt also seine Stimme ein in einen Stoff, der viele gleichberechtigte Herren bekommen hat. Weil zugleich das Ewig-Wahre und das Noch-Nie-Dagewesene transportiert wird, ergibt sich eine maximale Freiheit für die künstlerische Einbildungskraft. In solch ein bestehendes polyphones Stimmengewirr schrieb sich 1969 auch Pier Paolo Pasolini ein, mit einer filmischen Notiz zu einer afrikanischen Orestie. Die Orestie ist die klassische Tragödie von Aischylos, in der Oreste, angestachelt von seiner Schwester Elektra die gemeinsame Mutter ermordet, weil diese für einen Liebhaber den Vater getötet hat. Anschließend wird die Schuld- und Gerechtigkeitsfrage gestellt und das erste menschliche Gericht von der Göttin der Demokratie, Athene, berufen, um über Oreste mit den Mitteln der Vernunft zu urteilen.
In schwarz-weißen Bildern nimmt Pasolinis Kamera nun Frauen, Männer, Kinder, Orte – ja sogar Bäume in Afrika in den Blick, die ihm zum gedanklichen, motivischen und gestischen Material für eine volkstümliche Orestie werden. Dazu erklingt seine Stimme, die das Interesse an einer solchen erläutert.
Es ist gerade die Verwandlung der Erynnien, der eigentlichen Rachegöttinen, in die „wohlmeinenden“ Eumeniden durch die demokratische Vermittlung von Athene am Ende der Tragödie, die für ihn die Analogie zur Situation im heutigen Afrika darstellt. Jenes Afrika, das ein Ort zwischen archaischer Magie, sozialistischen Tendenzen und kühler, kapitalistischer Moderne geworden ist. Für Pasolini symbolisiert die figürliche Verwandlung die Synthese zwischem dem Afrika der Stammeskulturen und dem modernen Afrika, das seine Fühler der westlichen, neokapitalistischen und demokratischen Welt entgegenstreckt. Bildliche Metapher wird der filmischen Suche ein fröhlicher Tanz: Ihm haftet einerseits Rituelles an, seine strenge Bedeutung hat sich aber schon im Gelächter aufgelöst.
Pasolinis filmische Notizen wirken im Gegenteil zu bereits Verschriftlichtem und begrifflich Fixiertem eher wie Meditationen, frei schwebend umkreisen sie essayistisch eine konkrete Frage – die Frage der Orestie – und sind dabei beweglich für neue Einfälle. Zum Beispiel für die Idee einer jazzigen Vertonung der antiken Vorlage, um damit die tragische Rolle des Chores und der Musik zu unterstreichen. Pasolini diskutiert in anderen Sequenzen mit afrikanischen Studenten über die von ihm vorgeschlagene Analogie und deutet den studentischen Platz dabei als ex-emplarisch für diejenigen, die Zugang zu beiden Welten haben. Einige nicken, andere Studenten sind skeptisch.
Das sind interessante Gedanken eines theoretisch versierten und mit literarischen Stoffen vertrauten Regisseurs. Nicht zuletzt vermitteln die filmischen Vorstudien und Notizen ganz en passant auch einen Einblick in die Schaffensweise, Ideenwelt und kreativen Assoziationen eines großen Regisseurs. Zusätzlich gezeigt werden die Notizen zu einem Film über Indien.
Stefanie Maeck
Do, 21.15 Uhr, Metropolis
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