Schutz von Gewässern auf dem Balkan: Das Wasser soll fließen
Kraftwerke, Brücken, Dämme: Tausende Barrieren behindern die wilden Flüsse auf dem Balkan. Dagegen kämpfen Wissenschaftler und Umweltschützer.
L ouis Vardakas steht in einem seichten Flüsschen, das in der Mitte eines breiten Flussbettes plätschert. So weit das Auge reicht säumen weiße Steine das Ufer. Der griechische Fischkundler, 41, weiter Sonnenhut und schwarzer Bart, trägt einen wasserfesten Hosenanzug und ist elektrofischen. Dafür hat er einen Generator auf eine Brücke über dem Fluss gestellt, daneben eine Kabeltrommel. Das Kabel hängt herunter ins Wasser, an seinem Ende ist ein Kescher angebracht.
Wasser und Elektrizität? Das ist eigentlich keine gute Idee, weiß auch Vardakas. „Ich hatte einen Kollegen, bei dem das Kabel durchgeschnitten wurde und ihn am Arm getroffen hat. Der Arm war zwei Wochen lang gelähmt.“ Aber es ist die effizienteste Methode, um das Fischvorkommen zu untersuchen. Und wenn man alle Sicherheitsvorkehrungen erfülle und nichts mit dem Herzen habe, passiere im Normalfall nichts, versichert der Fischökologe. Schließlich sei der Strom, der die Fische anlockt, so schwach, dass auch kleine Fische nur temporär betäubt werden.
Vardakas hält seinen Kescher gegen die Strömung. Hinter ihm steht eine Kollegin als Absicherung. Sie bewegt ihren Kescher wie eine Acht im Wasser, um die Fische zu erwischen, die Vardakas nicht ins Netz schwimmen. Nur wenige Sekunden schauen die beiden sich die Fische an, dann rufen sie die Namen der einzelnen Arten und die ungefähre Länge einer dritten Kollegin zu, die mit einem Klemmbrett am Ufer steht. Sie schreibt mit: Barbe, 6 bis 10 Zentimeter.
Flüsse folgen nicht der Logik von Nationalstaaten
Vardakas gehört zu einer Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich Anfang Juli 2024 im Pindos-Gebirge in der Region Ioannina in Nordgriechenland mit lokalen Naturschützern treffen, um eine Woche lang zu forschen. An verschiedenen Orten entlang des Flusses Sarantaporos gehen Gewässerökologen, Vogelkundler und Insektenforscherinnen eine Woche lang ins Feld, um den Artenbestand zu dokumentieren. Ihre Ergebnisse schicken sie an lokale Umweltorganisationen, Ministerien, Juristinnen und Juristen. Ihr Ziel: Kein einziges Wasserkraftwerk, keine Brücke, kein Staudamm, eigentlich gar kein Hindernis soll in den Fluss gesetzt werden. Als sie ihre Forschungsreise planten, gab es hier Pläne für 30 Kleinwasserkraftwerke. Inzwischen stehen einige davon auf der Kippe, andere nicht.
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Hier, im Pindos-Gebirge, entspringen die Zuflüsse des Sarantaparos, der sich 50 Kilometer lang durch die Landschaft schlängelt, an der albanischen Grenze mit dem Aoos vereinigt und in Albanien unter dem Namen Vjosa weiter fließt. Die Vjosa und ihr gesamtes albanisches Adernetz wurden 2023 zum ersten Wildwasser-Nationalpark erklärt. Es ist ein einzigartiges ökologisches Schutzprojekt. Nirgendwo sonst in Europa steht ein Fluss mit seinen Nebenflüssen landesweit unter Schutz.
Der Haken: Flüsse folgen nicht der Logik von Nationalstaaten. Es ist eine Sache, den albanischen Teil des Flusses zum Nationalpark zu erklären, damit dort weniger gebaut wird und die Motoren leiser dröhnen. Aber wenn die griechischen Zuflüsse, die Tausenden kleinen Herzen, die das Wasser in den Fluss pumpen, abgetrennt werden und austrocknen, reicht auch ein albanischer Nationalparkstatus nicht aus, um das Ökosystem zu erhalten. Denn was übrig bleibt, ist nur ein Teil eines Ganzen. Ein Teil, der allein kaum überleben kann.
Denn alles, was fließt, folgt den gleichen Regeln: Wenn man irgendwo den Hahn zudreht oder eine Barriere in den Fluss setzt, kommen Wasser und Lebewesen nicht weiter. Wenn man viele kleine Wasserkraftwerke, Brücken und andere Hindernisse in den Sarantaparos und seine Zuflüsse baut, kommt das Leben, das flussaufwärts schwimmt, kriecht und rutscht, nicht mehr dahin, wo es hin will. In die Vjosa und dann ins Adriatische Meer.
Zurück zu Vardakas: Nachdem er seiner Kollegin die Namen der Fische zugerufen hat, wirft er sie wieder ins Wasser. So arbeiten sie sich Stück für Stück durch den Fluss, immer flussaufwärts. Es ist fast 40 Grad heiß und allen rinnt der Schweiß von der Stirn. Nach einer halben Stunde haben Vardakas und sein Team genug Proben gesammelt.
Sie machen eine Pause, bevor sie zur nächsten Teststelle weiterziehen. „Wir untersuchen die Verteilung und die Häufigkeit der Fischarten“, sagt Vardakas, als er sich im Schatten der Brücke auf einen gemütlichen Stein setzt. „Dafür nehmen wir Stichproben an verschiedenen Stellen des Sarantaporos und seinen Zuflüssen.“
Heute ist ihnen ein Europäischer Aal ins Netz gegangen. Ein großartiger Fund. Er steht auf der Roten Liste als vom Aussterben bedrohte Art. Laut Living Planet Index hat Europa bereits 93 Prozent seiner wandernden Süßwasserfischarten verloren. Die wenigen, meist gefährdeten Arten, die Begradigung, Bebauung, Umweltverschmutzung und Klimakrise bisher überlebt haben, sind oft im Balkan zu finden.
Vor allem jedoch ist der Europäische Aal ein Fisch, der in seinem Leben weite Strecken zurücklegt. Er zeigt, dass Sarantaporos und seine Zuflüsse ein noch weitestgehend intaktes, zusammenhängendes Flussgebiet sind.
Kein neutraler Job
Wenn es nach Vardakas geht, soll das auch so bleiben. Als er genug Proben gesammelt hat, ist es schon fast Abend. Er und seine Kolleginnen fahren mit dem Auto in das kleine Bergdorf Vourbiani. Dort treffen sie die anderen Forscherinnen und Forscher. Bei Bier, Hühnchen mit Reis und vegetarischer Lasagne sitzen alle auf Plastikstühlen um einen Baum, der so breit ist, dass drei Erwachsene sich an den Händen fassen müssten, um ihn zu umarmen. Wenn sich nicht gerade eine Gruppe von 50 Forscherinnen und Forschern breit macht, sitzen hier abends die Einheimischen bei Raki und Bifteki.
Während des Abendessens greift sich Gabriel Singer, 48, Gewässerökologe aus Österreich, ein Mikrofon. Er ist der leitende Wissenschaftler und wird später die einzelnen Forschungsberichte zusammentragen. Er hat eine Botschaft, die vor allem an den wissenschaftlichen Nachwuchs gerichtet ist: „Wir Wissenschaftler hier sind die Hüter des Ökosystems, insbesondere der Vjosa. Es ist kein neutraler Job, man ergreift Partei.“
Tatsächlich könnte man die Teilnehmenden als Wissenschafts-Aktivististinnen und -Aktivisten bezeichnen. Ihre Arbeit dient einem klar benannten Ziel: dem Schutz dieses Ökosystems. Dabei kommt ein Großteil der Gruppe aus dem Ausland und ist zum ersten Mal in Nordgriechenland. Wie die Bevölkerung zur zunehmenden Industrialisierung des Flusses steht, was die lokale Regierung denkt und aus welchen Gründen sich die Investoren für den Bau von Wasserkraftwerken entschieden haben, ist den meisten wohl nicht bekannt.
Nicht alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler finden diese Art von Parteinahme richtig. Die Debatte darüber, ob die Wissenschaft als Mittel zum Zweck oder als Selbstzweck betrieben werden sollte, ist so alt wie die moderne Wissenschaft selbst. Singer sagt: „Es gibt Wissenschaftler, die aus Sorge um ihre Glaubwürdigkeit lieber schweigen und damit oft Naturzerstörung tolerieren. Und dann gibt es jene, die wissen, was auf dem Spiel steht und bereit sind, sich auch in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen.“ Die Menge applaudiert.
Wasserkraftwerke fragmentieren das Ökosystem
Am nächsten Morgen fährt Dimitris Papageorgiou vom Mittelmeerinstitut für Mensch und Natur mit einer Kollegin zum einzigen fertiggestellten Wasserkraftwerk der Region. Es ist seit mehr als 10 Jahren in Betrieb und produziert 2,3 Megawatt. Das entspricht in etwa der Leistung einer älteren Windkraftanlage an Land. Die Gemeinde profitiert vom Strom. Sie erhält einen prozentualen Anteil am Gewinn des Investors. Dieses Geld kann sie zum Beispiel in neue Straßen oder Straßenbeleuchtung investieren.
Als das Auto am Straßenrand vor einem geschlossenen Tor parkt, hört man schon das Wasser plätschern. „Normalerweise ist es immer offen“, sagt der 33-Jährige, der als einer der wenigen in der Region geboren und aufgewachsen ist. „Wahrscheinlich wissen die Betreiber, dass ihnen eine Gruppe von Wissenschaftlern im Nacken sitzt.“ Die zwei steigen aus dem Auto und gehen am Tor vorbei durch ein kleines Wäldchen.
Nach fünf Minuten erreichen sie den Fluss. Dieser Nebenarm des Sarantaporos fließt fast senkrecht aus den Bergen. Dort, wo er langsamer und waagerechter wird, befindet sich ein Metallgitter. Das Wasser fällt hinein wie in einen Brunnen. Dann wird es unterirdisch in einen künstlichen Nebenarm geleitet, der von Betonwänden umgeben ist. Ein Teil des Wassers fließt durch ein kleines Rohr zurück in den Fluss, Papageorgiou schätzt diesen Anteil auf etwa fünf Prozent. Der Rest rauscht zwischen den Betonmauern hindurch in einen kleinen Stausee.
„An dieser Stelle ist das Ökosystem fragmentiert“, sagt der Umweltschützer. Das Wasser des Stausees wird kontrolliert abgelassen und bildet eine natürliche Barriere. Das bisschen natürlicher Fluss führt hier kaum Wasser. Wenn eine Fischlarve oder Kaulquappe durch das Metallgitter tief nach unten fällt, muss sie unterirdisch das Röhrchen finden, das zurück in den Fluss führt, dort hoffen, dass der Fluss gerade genug Wasser führt – was nur im Frühjahr nach der Schneeschmelze der Fall ist –, um sie nach unten zu tragen. Auch hier haben Vardakas und sein Team Proben genommen. Das Ergebnis: Hier schwimmt nichts.
30 weitere Kleinwasserkraftwerke waren im Einzugsgebiet des Sarantaporos geplant. Sie befinden sich in unterschiedlichen Genehmigungsphasen. Im November 2023 wurde ein Teil des Sarantaporos vom griechischen Ministerium für Umwelt und Energie jedoch als geschützte Landschaft und geschützte natürliche Formation ausgewiesen.
Ein Beschluss des Ministeriums für Umwelt und Energie vom Juni legt die Konsequenzen fest: Zehn geplante Kleinwasserkraftwerke, die sich noch in einem frühen Planungsstadium befinden, wurden blockiert. Für fünf weitere müssen neue Umweltverträglichkeitsprüfungen durchgeführt werden. Die restlichen 15 Kleinwasserkraftwerke sollen zwar am Sarantaporos gebaut werden, liegen aber außerhalb des neu ausgewiesenen Schutzgebietes. Stattdessen liegen sie in einem Natura- 2000-Naturschutzgebiet, das einen schwächeren Schutz vor Eingriffen ins Ökosystem bietet. Die Umweltschützer und Wissenschaftler ärgert das.
Sie werden oft gefragt, welche Alternativen es zu Kleinwasserkraftwerken gibt. Denn im Gegensatz zu anderen Barrieren, die Flüsse fragmentieren, haben Kleinwasserkraftwerke einen wirtschaftlichen Nutzen. Oft verweisen sie dann auf Solarenergie, die in bereits industrialisierten Gebieten installiert werden kann und für die Griechenland günstige Bedingungen bietet. Um den wirtschaftlichen Schaden auszugleichen, verweisen sie auf den Ökotourismus. Sie sehen darin eine Chance, um Menschen in abgelegenen Regionen mit intakter Natur ein Einkommen zu ermöglichen, das mit weniger Zerstörung verbunden ist.
Vor allem aber sind sie von solchen Fragen genervt. Indem sie die Auswirkungen der Fragmentierung auf das gesamte Ökosystem untersuchen, können sie sich klar gegen Barrieren im Sarantaporos positionieren. Das macht sie aber nicht zu Expertinnen und Experten für erneuerbare Energien.
Hunderttausende Barrieren in Europas Flüssen
Die Entscheidung des griechischen Ministeriums zum Bau der Kraftwerke im Juni hat die Biologen nicht davon abgehalten, im Juli herzukommen und ihre Instrumente auszupacken. Denn neben den 15 noch immer geplanten Miniwasserkraftwerken gibt es europaweit Hunderttausende von Barrieren, die keinen wirtschaftlichen oder sonstigen Nutzen mehr haben und nie abgerissen wurden. Kleine Betonbrücken, die verloren in der Landschaft stehen und von niemandem genutzt werden, aber den Fluss am Fließen hindern. So auch hier.
Die Bewegung, die sie wieder einreißt, nennt sich Dam Removal Europe, auf deutsch „Dammbeseitigung Europa“. Dahinter stehen unter anderem der World Wide Fund for Nature (WWF) und das „Programm offene Flüsse“, das Zuschüsse für die Wiederherstellung europäischer Flüsse vergibt. Was einst von eifrigen Händen ausgehoben, verschoben und aufgeschüttet wurde, wird nun von eifrigen Händen aufgelockert, eingerissen und entfernt.
Nach Angaben der Bewegung gibt es in Europa mehr als 1,2 Millionen Dämme, Wehre, Durchlässe, Furten und Rampen, von denen etwa 150.000 veraltet und verlassen sind. Mehr als 8.000 Barrieren seien bereits beseitigt worden, davon fast 500 im vergangenen Jahr.
Die Umweltschützerin Irini Lyratzaki koordiniert die Bewegung in Südosteuropa. Sie steht mit Papageorgiou neben dem Kleinwasserkraftwerk und zeigt mit dem Finger auf eine kleine Betonbrücke. „Das ist ein sogenannter Durchlass. Es ist die häufigste menschengemachte Barriere, auf die Flusswasser trifft.“ Die Brücke befindet sich hundert Meter unterhalb des Kraftwerks, wird aber nicht mehr genutzt. Sie reicht von einem Flussufer zum anderen, ist vielleicht drei Meter lang. Zwei kleine Betonblöcke sind in den Fußboden eingelassen, um die Brücke zu befestigen. Zwischen den Betonblöcken fließt das Wasser durch drei halbkreisförmige Bögen. Sediment und Geröll stauen sich an den Betonklötzen und kleine Tiere wie Insektenlarven bleiben an ihnen hängen.
Man hole sich gerade das Wissen aus Frankreich und Spanien, wo schon viele Barrieren entfernt wurden, sagt die Anthropologin. Denn um eine Barriere zu beseitigen, brauche es vieles: ein Netzwerk von Freiwilligen, Expertinnen und Experten, schweres Gerät, Finanzierung. Umweltstudien darüber, was passiert, wenn man sie entfernt. Man müsse die Eigentümerinnen und Eigentümer ausfindig machen und nachweisen, dass sie zum Nutzen von Mensch und Natur entfernt werden sollte. Was hilft: Viele Barrieren müssten eigentlich repariert werden, doch die Reparatur ist oft teurer als die Entfernung. Wie genau das am Ende aussieht, kann sie nicht sagen. Denn in Griechenland steht die Bewegung noch am Anfang.
Doch der Rückbau von Dämmen, Durchlässen und stillgelegten Wasserkraftwerken wird durch das europäische Renaturierungsgesetz einfacher. Es wurde im Juni 2024 beschlossen und sieht eine Reihe von Naturschutzmaßnahmen vor. Dazu zählt die Wiederherstellung von 25.000 Kilometern frei fließender Flüsse bis 2030. In Zukunft, so die Hoffnung der Umweltschützerinnen und Umweltschützer, wird es leichter sein, EU-Gelder für Rückbaumaßnahmen zu bekommen.
Wie das am besten gelingen kann, erklärt der österreichische Gewässerökologe Gabriel Singer: „Es ergibt zum Beispiel keinen Sinn, ein Wasserkraftwerk aus der Donau zu entfernen, weil kurz darauf das nächste kommt. Entscheidend ist, dass eine entfernte Barriere ein möglichst großes Ökosystem freigibt.“ Die EU beginnt nun zu prüfen, wo sich die Entfernung von Barrieren am meisten lohnt. 25.000 Kilometer sind ein ehrgeiziges Ziel. Vielleicht wird sich Irini Lyratzaki schon bald vor Aufträgen kaum retten können.
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