Schulstreit: Schule muss zum Kind passen
Die Fachwelt steht hinter der Primarschule. Nach Schulleitern und Professoren tritt jetzt auch der Verband für offene Kinder- und Jugendarbeit für die Reform ein.
Von einigen Medien wird Schulsenatorin Christa Goetsch (GAL) regelrecht gemobbt. So akzeptieren die Radiosender Radio Hamburg und Oldie 95 nicht, dass die grüne Politikerin in der jetzigen Phase der Verhandlungen kein "on Air" Streitgespräch mit Reformgegnern führen will. Wie ein Running Gag wurde die Gesprächsaufforderung im Dezember täglich wiederholt.
Dabei war dies der Monat, in dem der Unternehmer Michael Otto als Moderator Gespräche mit allen Beteiligten führt. In der ersten Januarwoche sollen Bürgermeister Ole von Beust (CDU)und Schulsenatorin Goetsch erste Ergebnisse vorlegen. Danach wird es die ersten direkten Gespräche zwischen Regierung und der Volksinitiative "Wir wollen lernen" geben.
Wenn es gelingt, einen Kompromiss zu finden, der den Volksentscheid überflüssig macht "wäre das der beste Weg", sagt Ole von Beust der Nachrichtenagentur dpa. Sollte das nicht funktionieren, werde im Sommer eben abgestimmt. "Ich scheue den Konflikt nicht", sagt von Beust. Er werde alles tun, um zu überzeugen, "dass sechs Jahre gemeinsames Lernen richtig ist".
Damit ist er nicht allein. Menschen, die mit Kindern beruflich zu tun haben, sind für die Reform. So hat jetzt der "Verband für offene Kinder und Jugendarbeit" die geplante Primarschule gelobt. Der Verband vertritt Erzieher und Sozialarbeiter, die auf Bauspielplätzen und in Jugendclubs arbeiten und dort auch den Kindern begegnen, die Verlierer des gegliederten Schulsystems sind.
"Wir treffen in unseren Einrichtungen auf Kinder, die auf Förderschulen ,gegangen werden' oder in der Schule nicht mitkommen, weil sie Migrationshintergrund haben", berichtet Verbandsgeschäftsführer Joachim Gerbing. "Es ist schwer, einem Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss überhaupt noch eine Lebensperspektive aufzuzeigen." Aus Sicht der Kinder- und Jugendarbeit dürfte es in Hamburg keine Kinder geben, die nicht zur Schule passen. "Vielmehr muss die Schulstruktur so gestaltet sein, dass sie zu den Kindern passt." Die Primarschule sei da "ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung".
Es ist nicht der erste Appell dieser Art. Bereits im Herbst hatten alle großen Kita-Träger erklärt, dass sie die sechsjährige Primarschule "ausdrücklich" begrüßen. Und als Ende November die hohe Zahl der 180.000 Unterschriften der Volksinitiative bekannt wurde, unterzeichneten 276 Schulleitungsmitglieder von Grund-, Gesamt-, Haupt- und Realschulen eine Unterstützungserklärung für die Reform, der wenige Tage später ein Aufruf von 40 Berufsschulleitern folgte.
Zum Bumerang wurde ein Appell von zehn Professoren der Wandsbeker Bundeswehruniversität. Sie platzierten einen Brief im Abendblatt, in dem sie vor dem Verlust gymnasialer Bildung warnten. Am Tag darauf folgte ein Gegenappell, in dem gleich fünf mal so viele Professoren der Erziehungswissenschaft für die sechsjährige Grundschule votierten. Denn Studien belegten, dass dort Schüler mit schwachen Leistungen gefördert würden, ohne dass dies leistungsstarke Schüler beeinträchtigte. Die Professoren boten sich an, die aufgeregte Debatte "durch wissenschaftliche Expertise zu versachlichen".
Auch Eltern-, Schüler- und Lehrerkammer stehen der Reform bisher positiv gegenüber. Bei den Kammerneuwahlen im Herbst gelang den Reformgegnern kein Durchmarsch, sie erhielten nur wenige Sitze. Unter den LehrerInnen gaben diesmal sogar 80 Prozent der GEW ihre Stimme, während der konservative Deutsche Lehrerverband an Boden verlor. Das sei auch ein starkes Votum für "das längere gemeinsame Lernen", sagt der GEW-Vorsitzende Klaus Bullan.
Zwar nicht die Medien-, aber die Fachwelt steht zum schwarz-grünen Reformprojekt. Freilich ist es eine Allianz auf Zeit. Würde der Volksentscheid verloren, will von Beust mit den Grünen weiter regieren. Eine Niederlage wäre zwar bedauerlich - "aber dem liegt ja kein Zwist der Koalition zugrunde".
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!