Schulplätze für Flüchtlingskinder: Ausgebremste Neugier
Flüchtlingskinder warten in Berlin immer länger auf Schulplätze. Jetzt droht ihnen Beschulung in Heimen.
Warum heißt es: das Sofa, aber der Sessel? Warum das Fernsehen, aber der Fernseher? Ratlosigkeit macht sich breit angesichts der komplizierten deutschen Artikel im Schulungsraum des Vereins KommMit in der Moabiter Turmstraße. Fast 20 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 12 und 17 Jahren drängen sich dreimal wöchentlich nachmittags in dem kleinen Raum. Die meisten stammen aus Syrien. Sie sind erst seit einigen Monaten in dem Land, in dem ihre Eltern Schutz und Asyl für ihre Familien erhoffen. Und sie alle hier wollen Deutsch lernen.
Deshalb nehmen die Jugendlichen derzeit die lange Anfahrt ins innerstädtische Moabit auf sich. Sie alle leben im Flüchtlingsheim im Spandauer Stadtteil Gatow – idyllisch gelegen, doch leider in dem Berliner Bezirk, der es Flüchtlingskindern derzeit am schwersten macht, ihre gesetzliche Schulpflicht zu erfüllen. Denn in Spandau steht die komplette gesundheitliche Erstuntersuchung für Flüchtlinge als Voraussetzung vor der Einschulung. Auf Termine dafür müssen Flüchtlinge und ihre Kinder derzeit aber mehrere Monate lang warten (taz berichtete).
Einzig Spandau mache den TBC-Test sowie die schulärztliche Untersuchung der Kinder zur Vorbedingung für die Einschulung, klagt Walid Chahrour vom Betreuungs- und Beratungszentrum für junge Flüchtlinge (bbz), wo der KommMit seinen Sitz hat. Den schulpflichtigen jungen Flüchtlingen gehe dadurch wertvolle Zeit verloren. Der Verein ist von der Berliner Integrationsbeauftragten Monika Lüke mit der Beratung syrischer Flüchtlinge beauftragt.
Doch auch in anderen Bezirken funktioniert die Versorgung von Flüchtlingskindern und -jugendlichen angesichts deren zunehmender Anzahl mit Schulplätzen nicht reibungslos. Knapp 3.200 minderjährige Flüchtlinge sind derzeit in 274 speziellen Lerngruppen untergebracht, in denen sie zunächst die nötigen Deutschkenntnisse für die Teilnahme am normalen Schulunterricht erlernen sollen – über 400 allein jeweils in Reinickendorf und Mitte, knapp 400 in Tempelhof-Schöneberg und Neukölln. In Marzahn-Hellersdorf sind es erst 95, die diese an staatlichen Schulen eingerichteten Deutschlerngruppen besuchen. Doch angesichts eines geplanten Containerheims dort warnt der Bürgermeister und Schulstadtrat Stefan Komoß (SPD) des Bezirks bereits, kämen noch, „sagen wir, 150 Kinder“ dazu, sei das nicht mehr leistbar: „Gut möglich, dass wir dann Klassen in den Heimen einrichten müssen“, so Komoß.
Das wäre „eine Katastrophe“, sagt Walid Chahrour vom bbz: Schließlich diene der Besuch von Regelschulen der Integration der Flüchtlingskinder. Zudem sei es für sie nach der Flucht sehr wichtig, einen möglichst normalen Alltag leben zu können.
Und dass selbst die Beschulung in Heimen nicht problemlos klappt, zeigt das Beispiel Lichtenberg. Seit Eröffnung einer neuen Erstunterkunft für Flüchtlinge im September warten dort gut 30 Kinder auf Unterricht. Zwar hat die Senatsbildungsverwaltung bereits Lehrkräfte für sie gefunden – doch mit dem Unterricht beginnen können diese bislang nicht: Es fehlt in dem improvisierten Wohnheim in einem ehemaligen Bürohaus an geeigneten Räumen.
Dabei würden sich viele LehrerInnen wohl freuen über so hoch motivierte SchülerInnen wie die Gatower Flüchtlingsjugendlichen im bbz. Er wolle Deutsch lernen, um endlich mit den Menschen hier reden zu können, sagt etwa der 13-jährige Saryaa: „Ich bin neugierig, sie kennenzulernen!“ Fatima senkt traurig den Kopf bei der Frage nach dem letzten Tag, an dem sie eine Schule besucht hat. Über zwei Jahre sei das her, sagt sie leise. Die 14-Jährige aus dem syrischen Aleppo will Zahnärztin werden. Nun wartet sie im Heim auf einen Schulplatz und vertreibt sich die Zeit mit Zeichnen – und Deutschlernen per Internet.
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