Schuldneratlas: Mehr Kohle - für einen Winter
Die Zahl der Schuldner sinkt, sogar in armen Bezirken. Doch noch immer steht dort jeder Fünfte in der Kreide - und bald werden es wohl wieder mehr. Schuldenberater sagt: "Die Mittelschicht rutscht ab".
Mehr Lohn, weniger Miese - so lautet die einfache Rechnung, um den Stand der Überschuldung in dieser Stadt zu prophezeien. Und in der Tat haben sich in diesem Jahr weniger Berliner und Berlinerinnen finanziell übernommen. Mit der sinkenden Arbeitslosigkeit ist zum ersten Mal seit fünf Jahren auch die Zahl der überschuldeten Privatpersonen zurückgegangen. Am 1. Oktober dieses Jahres waren es 410.000 Berliner und Berlinerinnen, die das Unternehmen Creditreform als überschuldet registrierte - gut ein Prozent weniger als noch im Jahr2007.
Der Schuldneratlas Berlin untersucht im sechsten Jahr in Folge, wie sich die Überschuldung privater Verbraucher in den einzelnen Bezirken entwickelt. Dazu führt das Inkasso-Unternehmen Creditreform Daten wie eidesstattliche Erklärungen, Privatinsolvenzanträge, Haftanordnungen und ausstehende Forderungen von Hausverwaltungen oder Firmen zusammen. Überschuldet ist demnach, wer in absehbarer Zeit seine Miete, Versicherung oder andere Zahlungsverpflichtungen nicht begleichen kann, weil die monatlichen Einnahmen dazu nicht ausreichen.
Wie auch in den vergangenen Jahren leben in Neukölln, Wedding und Tiergarten prozentual die meisten Schuldner der Stadt. Dort steht jeder Fünfte in der Kreide. Zum Vergleich: in Zehlendorf ist es nicht einmal jeder Zehnte. Stadtweit liegt die Schuldnerquote bei fast 14 Prozent.
Auch wenn immer noch so viele Personen faktisch insolvent sind, wie eine mittelgroße Stadt Einwohner hat, sieht der Berliner Geschäftsführer von Creditreform Jochen Wolfram eine "spürbare Entspannung": "Viele Berliner konnten Arbeit finden und sich langsam aus der Schieflage befreien." Von einem stabilen Trend mag er allerdings nicht sprechen. Denn die befürchtete Rezession könnte eine neue Schwemme von Insolvenzen nach sich ziehen. "Ein weiterer Rückgang wird in den nächsten zwei Jahren nicht zu erwarten sein", so Wolfram.
Von Entspannung kann Carlo Wahrmann, Schuldnerberater der Caritas in Mitte, auch jetzt nichts spüren. Dass die Zahl der Schuldner gesunken sei, könne er nicht bemerken. Derzeit betrage die Wartezeit für eine ausführliche Beratung mitsamt Schuldenregistrierung sechs Monate, eine Notfallberatung gehe natürlich schneller, innerhalb von zwei bis vier Wochen. In Berlin gibt es rund 100 dieser Stellen. Laut Wahrmann könnten damit im Jahr "gerade mal 20.000 Personen versorgt werden".
Zu Wahrmann und seinen Kollegen in Mitte kommen nicht nur Sozialhilfeempfänger oder Arbeitslose, sondern immer häufiger auch Freischaffende - Journalisten, Fotografen, aber auch Rechtsanwälte. "Die Mittelschicht rutscht ganz schön ab", sagt der Schuldenberater. Ausstehende Honorare, Mietschulden, Versandhausrechnungen, vom Jobcenter zu viel bezahltes Arbeitslosen- oder Kindergeld: Die Liste der Gründe, in die Schuldenfalle zu tappen, ist lang.
Auffällig in den letzten Jahren seien aber vor allem höhere Handyschulden, die sich bis auf tausende Euros summieren. Davon betroffen sind insbesondere Jugendliche. "Junge Leute haben erschreckend wenig Finanzkompetenz", sagt Wahrmann. Deswegen setzen er und seine Mitarbeiter verstärkt auf präventive Schuldnerberatung - bereits bei Achtklässlern in den Schulen.
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