Schulabgänger ohne Lehrstelle: Lernen in der Parallelwelt
Die Arbeitsagenturen stecken Schulabgänger ohne Stelle gern in Übergangsmaßnahmen. Die Kurse kosten Milliarden, einen Abschluss gibt es oft nicht.
BERLIN taz | „Das Ding hier“, doziert Herr Kuttner und sieht in die Runde, „ist eine richtige Keimhöhle. Beim Reinigen immer sehr viel Mühe geben!“ Er nimmt den Stecker der Aufschnittmaschine und hält ihn in die Höhe. „Wenn die nicht in Betrieb ist“, sagt Kuttner, kurze schwarze Haare, strenger Blick, „ist der draußen.“ Kapiert?
„Hattest du schon mal einen Unfall“, fragt einer der jungen Männer, die sich die faltbare Kochmütze aus Papier heute zum ersten Mal aufgesetzt haben. Auf seiner steht mit blauem Edding „Marc“. „Natürlich“, sagt Herr Kuttner. „Lässt sich leider nicht vermeiden.“ Marc nickt.
Fünf Jugendliche folgen Herrn Kuttner in weißen Kutten durch die Großküche in Berlin-Pankow. In den kommenden drei Jahren sollen sie hier lernen, wie man die Aufschnittmaschine keimfrei schrubbt, ohne sich in den Finger zu schneiden. Wie man Gemüse schnippelt. Wie lange die Kartoffeln in einem der Riesentöpfe auf dem Herd stehen müssen.
Kein Schulabschluss, keine Lehre, kein Job: 21,9 Prozent derjenigen, die keinen beruflichen Abschluss erwerben, landen in der Arbeitslosigkeit. Die Quote unter ihnen ist dreimal höher als bei jungen Menschen mit Ausbildung.
Das Übergangssystem entlässt laut einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung rund der Hälfte der jungen Menschen ohne berufsqualifizierenden Abschluss. Die private Stiftung fordert statt des Maßnahmendschungels eine staatliche Ausbildungsplatzgarantie. Die Mehrkosten beziffert sie auf 1,5 Milliarden Euro. (bk)
Herr Kuttner will aus ihnen Köche machen. Aus Jugendlichen, denen die Hotels, Restaurants und Gaststätten in der Stadt kaum eine Chance geben. Und die sich oft auch selbst kaum eine Chance geben.
„Ab morgen“, sagt Herr Kuttner und hält einen Kugelschreiber in die Höhe, „hat jeder einen Stift dabei. Man kann nur etwas lernen, wenn man hin und wieder etwas aufschreibt.“
In Teufels Küche
Die „Kiezküche“ ist ein Restaurant, das vor allem einen Zweck hat: jungen Leuten, die keine Lehrstelle finden, etwas beizubringen. Mittags kommen die Bewohner des benachbarten Seniorenheims zum Essen.
Man kann sich fragen, warum es eine Ausbildung in der Kulissenwelt noch braucht. Denn auf den ersten Blick werden die Nachrichten vom Lehrstellenmarkt von Jahr zu Jahr besser. Die Arbeitsagenturen meldeten Ende August 101.100 unbesetzte Lehrstellen – denen gerade einmal 90.900 Jugendliche gegenüberstehen, die noch suchen.
Das liegt zum einen daran, dass weniger junge Menschen die Schulen verlassen und mehr an die Uni geht statt in die Lehre. Seit 2005 ist die Zahl der Menschen, die in die Berufsbildung streben, um fast 12 Prozent gesunken. Knapp eine Million sind es noch, steht im aktuellen Bundesbildungsbericht.
Betriebe und Abgänger suchen aneinander vorbei
Und trotzdem finden Jugendliche keine Lehrstelle. Es gibt verschiedene Gründe dafür. Der einfachste: Betriebe und Schulabgänger suchen aneinander vorbei. In manchen Regionen gibt es zu viele Bewerber, in manchen zu wenige. Und Schulabgänger wollen lieber Mediengestalter werden als Restaurantfachkraft.
Die zweite Antwort ist komplizierter. Es gibt Jugendliche, deren Chancen sich kaum verändert haben – egal, wie gut sich der Lehrstellenmarkt entwickelt. Jugendliche, die einen schlechten oder gar keinen Schulabschluss wie ein Stigma vor sich hertragen. Die über die Jahre offenbar ein Gefühl der Entmutigung entwickelt haben, für das sie selbst keine richtigen Worte finden. Jugendliche wie Marc.
Gerade so hat der jetzt 20-Jährige seinen Hauptschulabschluss geschafft. Ein einziges Mal hat er sich dann um eine Ausbildung beworben, bei einem Discounter. Die Mappe kam nicht zurück.
„Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, ich habe da mein Originalzeugnis reingelegt.“ Seither hat Marc es sein lassen mit den Bewerbungen.
Warum?
Schulterzucken.
„Ich bin faul“, sagt Marc.
Die Arbeitsagentur steckt ihn in Maßnahmen. Erst ein Berufsvorbereitungsjahr, dann Ein-Euro-Jobs. Einmal musste er jeden Morgen um sieben in der Früh mit anderen Jugendlichen in einer Werkstatt erscheinen und Dinge aus Holz basteln, um zu schauen, ob das etwas für ihn sein könnte. „War nichts für mich.“
Dann sollte er es als Lagerhelfer probieren. „War ziemlich doof. Ich hatte keinen Plan davon.“ Nach drei Monaten flog er raus, weil er ständig zu spät war.
Von der besseren Lage auf dem Ausbildungsmarkt, das steht auch im aktuellen Bundesbildungsbericht, profitieren Schulabgänger, die allenfalls einen Hauptschulabschluss haben, kaum. Sie landen immer noch häufig im Übergangssystem, so wie Marc. Viele Betriebe lassen lieber einen Ausbildungsplatz frei, als ihn mit einem Hauptschüler oder Schulabbrecher zu besetzen.
Laut einer heute erscheinenden Studie der Bertelsmann-Stiftung des Bildungsökonomen Klaus Klemm wechseln 2012 rund 300.000 Jugendliche ins Übergangssystem – rund die Hälfte von ihnen, weil ihnen Abschlüsse oder Kompetenzen fehlen, um sich auf dem Lehrstellenmarkt zu behaupten.
Für 2015 geht Klemm davon aus, dass 260.000 Jugendliche in Maßnahmen statt in Lehrbetrieben unterkommen. 4,3 Milliarden Euro kosten all diese Kurse, die zwar auf vieles vorbereiten, aber zu keinem Abschluss führen. Nur etwa die Hälfte der Jugendlichen schafft den Sprung aus dem Übergangssystem in einen regulären Ausbildungsbetrieb.
Für viele ist die Ausbildungswelt zu rau
Die „Kiezküche“ bietet den Jugendlichen zwar die Möglichkeit, einen Abschluss zu machen. Aber auch sie versucht, ihre Azubis möglichst schon vorher in echten Betrieben unterzubringen; 42 Tage im Jahr sind sie draußen beim Praktikum. Eine echte Lehrstelle bekommen danach gerade einmal zehn Prozent von ihnen angeboten. Oft ist die Ausbildungswelt zu hektisch, zu rau für Jugendliche, die sich ohnehin schon schwertun.
Nadja, 24, muss allein zwei kleine Kinder großziehen. Schichtdienste? Arbeit am Abend und am Wochenende, wenn die Kita zu ist? Unmöglich. Seit September lernt sie Restaurantfachkraft in der „Kiezküche“.
Auch Nadja tourte zuvor durch verschiedene Maßnahmen, ohne großen Erfolg. Die Arbeitsagentur vermittelte sie in ein Programm, in dem Alleinerziehende den Schulabschluss nachholen können. Aber Nadja brach nach einem Monat ab. „Ich mag einfach keine Schule.“
Das Jobcenter sperrte ihre Bezüge, gab ihr Lebensmittelgutscheine, mit denen sie sich an der Ladenkasse anstellen musste. „Verdammt peinlich“, sagt Nadja. So stand es in der Eingliederungsvereinbarung, die sie unterschrieben hatte. Nur eben nicht gelesen. „Wenn ich abbreche“, sagt Marc, „muss ich dem Jobcenter 8.000 Euro zahlen.“
„Ich nur 3.000“, sagt Nadja. Es ist ihre letzte Chance.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen