Schüler wollen Schulstart verschieben: Lasst sie schlafen!
Denn dann lernen sie hinterher umso besser. Berliner Schüler wollen nun durchsetzen, was Schlafforscher schon längst fordern: den Unterrichtsbeginn um 9 statt um 8 Uhr.
Günther Oettinger hat es schon getan, tausende Elternversammlungen und die Schlafforscher. Es hat nichts genutzt. Nun versuchen es kommende Abiturienten des Berliner John-Lennon-Gymnasiums: mit dem Unterricht später zu beginnen, nämlich erst um 9. "Ich finde es einfach deprimierend, im Winter so früh aufzustehen", sagte Simon Baucks aus der Zwölften - und wiegelte seine ganze Schule auf. Heute stimmen 800 Schüler über ihren Schulbeginn ab. Wenn auch die Schulkonferenz mitmacht, kann das Vorhaben gelingen.
Den Berliner Boulevard hat der neuerliche Bildungsskandal sofort auf die Palme gebracht. "1. Berliner Langschläfer-Schule geplant!", warnte die Bild. Freilich fiel die Schelte ungewohnt maßvoll aus. Denn beim ersten Rundruf haben die verdutzten Reporter mehr Pros als Kontras zum späteren Beginn gefunden. Kein Wunder, er ist sinnvoll.
Schlafforscher wie der Münchener Chronobiologe Till Roenneberg weisen seit langem daraufhin, dass der in Deutschland übliche Unterrichtsbeginn um 8 Uhr nicht gut ist. Das hat etwas mit der inneren Uhr von Jugendlichen zu tun, die anders tickt als die äußere Uhr. "Jugendliche sind Dauerfrühschichtarbeiter. Das ist wie bei Erwachsenen, die um vier Uhr aufstehen müssen", sagt Roenneberg zum Schulbeginn 8 Uhr.
Auch der Regensburger Schlafforscher Jürgen Zuley warnt vor solch frühem Aufstehen. "Kinder brauchen unbedingt ausreichend Schlaf, sonst leidet ihr Wachstum und ihre Fähigkeit, zu lernen, geht zurück" sagt er und fordert: Kinder sollten zwischen 7.30 und 8 Uhr aufstehen - und frühestens um 8.30 Uhr, besser noch erst um 9 Uhr mit dem Lernen beginnen.
Was Zuley und Roenneberg wissenschaftlich nachgewiesen haben, erleben Eltern jeden Morgen. Sie treiben Kinder aus dem Bett und hetzen sie in einem Parforceritt durch die Wasch-, Anzieh- und Frühstücksphase - nur damit die dann gähnend, aber pünktlich um 8 in der Schulbank sitzen. Von Verstehen oder gar Mitdenken kann dann oft keine Rede sein.
Gute Schulen haben sich von diesem Quatsch längst verabschiedet. Sie schieben ein bis zu halbstündiges Band zwischen den ersten Gong und den eigentlichen Arbeitsbeginn. Dann wird allerdings auch ganz anders Unterricht gemacht. Nicht mehr der Lehrplan steht im Mittelpunkt, sondern das Kind. In guten Schulen gibt es nach dem Ankommen meistens eine Phase hochkonzentrierten individuellen Arbeitens. Wenn die Schüler am leistungsfähigsten sind, wenn ihr Hirn am fittesten ist, sollen sie sich rund zwei Schulstunden ihren eigenen Studien widmen können - in der Freiarbeit oder im Lernbüro, wie die neuen Lehrformen zum Beispiel heißen. Je nach Alter haben die Kinder immer wieder Gelegenheit, eine Pause zu machen. Allerdings: Sie müssen dazu regelrecht ermuntert werden, denn das neue Lernen ist nicht langweilig-rezeptiv, sondern selbststeuernd-aktiv.
Der ganze Lerntag guter Schulen findet im Rahmen der Ganztagsschule statt und ist so organisiert. Neben der konzentrierten Einzelarbeitsphase gibt es am Nachmittag im zweiten biologischen Hoch eine Teamarbeitsphase, in der erneut die natürliche Fitness der Schüler genutzt wird. Werden sie danach müde und unkonzentriert, können sie sich bewegen, Pause machen, oder auch mal ein Nickerchen.
Das, was sich so leicht anhört und was jeder gute Chef seinen besten Mitarbeitern nicht nur gönnt, sondern regelrecht vorschreibt - die Pause nämlich -, ist allerdings in Deutschland schwer durchsetzbar. Denn die Alltagssprache des Lernens ist hier negativ konnotiert: Wenn Kinder in die Schule kommen, beginnt "der Ernst des Lebens"; wenn sie sitzenbleiben, wird das zur "Ehrenrunde" stilisiert. Richtiges Lernen, so predigen es noch heute viele Lehrer, muss wehtun. Jedenfalls sind Kuschelecken oder gar Kuschelpädagogik nicht gern gesehen.
Man kann den John-Lennon-Schülern nur wünschen, dass sie mit ihrem späten Unterrichtsbeginn Erfolg haben. Es könnte der Weckruf sein für eine verspätete Nation - die in der Schule die Schmerzen liebt.
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