: Schroffe Propaganda
betr.: „Woher wissen Sie, was ich denke?“, Interview mit Außenminister Joschka Fischer, taz vom 13. 4. 05
Es dürfte nur wenige Menschen in Europa geben, die sich nicht über die friedliche Regierungsübernahme des Wiktor Juschtschenko in der Ukraine und damit deren Öffnung zum Westen gefreut haben. Und falls man nicht viel für die Verbesserung der Lebensbedingungen in der Ukraine übrig haben mag, so lockt doch die Aussicht auf Besserung der Geschäftsbeziehungen und Absatzmöglichkeiten auf einem hungrigen Markt. Wie schroff wirkt da die Propaganda der deutschen Opposition, durch eine liberale Visapraxis kämen von dort nur Schwarzarbeiter, Gauner, Zuhälter und Prostituierte.
Dass man es auch anders sehen kann, offenbart die Neue Zürcher Zeitung in einem Bericht vom 9. April. „Die Visa-Erleichterungen für ukrainische Bürger nützten wohl weniger den Schleusern, Kriminellen und Prostituierten als vielmehr jenen Wissenschaftlern, Studenten, Künstlern, Journalisten und Geschäftsleuten, die die Revolution in Orange aktiv mittragen sollten“, schreibt Elfie Siegel, langjährige Korrespondentin in Moskau für die Belange der GUS. Menschen hätten dank großzügiger Visaerteilung in großer Zahl Einblick in westliche Verhältnisse haben können für einen echten Systemwechsel im eigenen Land. Die weitere europäische Geschichte wird zeigen, ob die Strategie der Verständigung und Öffnung, obgleich aus hauptsächlich wirtschaftlichem Interesse betrieben, eine gute war und ist.
Tatsache ist jedenfalls, dass Separation und Einzelstaatlichkeit den Menschen in Europa über Jahrhunderte die schlimmsten Kriege der Menschheitsgeschichte beschert haben. Destruktiv und bisweilen widerlich ist es jedenfalls, wenn man sensible gesellschaftliche und völkerrechtliche Gegebenheiten und differenzierte Einschätzungen dazu auf der Schlachtbank der Parteienstreitigkeit und Geltungssucht zertrümmert. THOMAS HARTMANN, Kempten