Schriftstellerin über Armut: "Die Wirklichkeit ist viel schlimmer"
Die finnischschwedische Autorin Susanna Alakoski gilt als Expertin für soziale Fragen. Ein Gespräch über die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich und die Hilfe der Literatur.
taz: Frau Alakoski, Ihr Roman "Bessere Zeiten" ist in Schweden schon vor fünf Jahren erschienen. Ist es sehr merkwürdig für Sie, jetzt immer noch darüber zu sprechen?
Susanna Alakoski: Ich habe schon vor vier Jahren versucht, nicht mehr ständig darüber zu sprechen. Das war aber nicht möglich, denn es ging einfach immer, immer weiter. Das Buch wird sehr viel benutzt. Sozialarbeiter beziehen sich darauf; in den Schulen wird es gelesen. Für die Sechzehn- bis Siebzehnjährigen gehört es zur Standardschullektüre und dient als Grundlage für Diskussionen über die moderne Gesellschaft, über moderne Armut.
Ich habe schon oft gedacht, dass ich eigentlich aufhören könnte zu schreiben. Ich könnte all meine Zeit damit verbringen, öffentlich über soziale Fragen zu sprechen. Das hat mich auch schockiert.
Auf Ihrer Website habe ich den Satz gefunden: "Bücher sollten ein Anliegen haben." Sind Sie mit dieser dezidiert engagierten Haltung als Autorin eine Ausnahmefigur?
Ja, ich denke schon. Ich bin zwar nicht die Einzige, die in Schweden über soziale Themen schreibt, das tun andere auch. Aber ich unterscheide mich durch meine Herkunft. Ich entstamme einer sehr großen gesellschaftlichen Gruppe, der Gruppe der Armen, der Arbeiter.
Auch in Schweden ist das immer noch die Mehrheit. Aber diese Leute werden in der Regel keine Künstler, Sänger oder Schriftsteller. Deshalb bin ich eine Ausnahmeerscheinung. Ich kenne Dinge, die sehr viele Menschen berühren, und kann darüber schreiben. Das ist selten. Außerdem bin ich Sozialarbeiterin.
In welchem Kontext haben Sie als Sozialarbeiterin gearbeitet?
Ich habe sehr viel mit Einwanderern gearbeitet, aber auch im Sozialamt und in anderen, ganz unterschiedlichen Projekten. Und natürlich kann ich beim Schreiben auf diese Erfahrungen zurückgreifen.
Susanna Alakoski, geboren 1962 in Finnland. Ihre Eltern zogen 1965 als Gastarbeiter nach Schweden. Alakoski ist Sozialarbeiterin, Journalistin und Schriftstellerin.
Ihr Roman "Bessere Zeiten", 2006 erschienen, war das erste literarische Debüt, das jemals den August-Preis, den wichtigsten schwedischen Literaturpreis, erhielt. Alakoski schildert darin die schwierige Kindheit des finnischen Mädchens Leena im südschwedischen Ystad. Leenas Eltern schaffen es nicht, in der schwedischen Gesellschaft Fuß zu fassen.
Der Alltag in der Familie ist von Armut, Alkoholismus und häuslicher Gewalt geprägt. (Auf Deutsch ist der Roman bei der Edition Fünf erschienen.) Der Roman, der realistische Schilderungen der häuslichen Katastrophen mit der Unbefangenheit der kindlichen Perspektive verbindet, ist im 8-Millionen-Einwohner-Land Schweden mittlerweile 500.000-mal verkauft worden. Eine filmische Adaption kam im Dezember 2011 in die deutschen Kinos.
Das Schweden, in das Sie in den sechziger, siebziger Jahren kamen, war noch nicht so wohlhabend wie heute. Existiert die Armut, die Sie als Kind noch erlebt haben, heutzutage noch?
Heutzutage ist es schlimmer. Die Kluft zwischen Reich und Arm ist viel größer geworden. Die Reichen sind sehr reich und die Armen sehr arm. Und es gibt unglaublich viele Menschen, die mit häuslicher Gewalt leben müssen. Aber im Fernsehen sieht man davon wenig, in Büchern liest man nichts darüber.
Und wenn Filme oder Bücher über so ein Thema gemacht werden, über Alkoholismus und Gewalt, so handeln sie meist von der Person, die Gewalt ausübt. Es gibt sehr wenig aus der Perspektive eines Kindes oder der einer verprügelten Frau.
Als Sie das Buch schrieben, griffen Sie da auch auf eigene Erfahrungen zurück?
Es ist kein dokumentarisches Buch. Es hat den Anspruch auf eine Form von Wahrheit, die mit meinen eigenen Erfahrungen zu tun hat. Aber die Wirklichkeit, die ich kenne, ist noch viel schlimmer. Wenn ich zum Beispiel im Roman drei Gewaltszenen schildere, so habe ich im wirklichen Leben fünfundzwanzig gesehen. Ich kann fast sagen, ich wünsche mir, es hätte nur zwei Alkoholiker in meiner Familie gegeben. Tatsächlich waren es aber viel mehr. Daher würde ich sagen, die Literatur hilft dabei, das Schlimmste zu vermeiden.
Sie meinen, Sie transformieren die Wirklichkeit in Literatur, um sie erträglich zu machen?
Es geht darum, die Dinge auf eine Weise zu erzählen, die es den Menschen möglich macht, darüber zu lesen. Ich finde es unangenehm, Bücher von Leuten zu lesen, die einfach geradeheraus aus ihrem Leben erzählen. Dabei gibt es nur eine Stimme, entweder voller Hass oder voller Traurigkeit, es gibt keine unterschiedlichen Töne.
Für mich war es sehr wichtig, auch über die Liebe in dieser Familie zu schreiben, genau wie über den Hass. Diese Gefühle liegen sehr dicht beieinander. Und zu erzählen, wie es den Kindern geht, die all das erleben müssen, Gewalt, Alkoholismus, Vernachlässigung - und sie lieben ja dennoch ihre Eltern! Es muss sehr, sehr viel passieren, bis ein Kind anfängt, seine Eltern zu hassen. Das wollte ich beschreiben.
Aber ich fand auch die Mutter sehr interessant. Zu Beginn zeigen Sie sie als eine selbstbewusste, kluge Person, die Spaß am Leben hat, zum Schluss ist sie ein alkoholkrankes Wrack. Warum muss diese Frau so enden?
Ich habe so viele Frauen zusammenbrechen gesehen. Intelligente Frauen, die arbeiten wollen, die feministisch denken, die wissen, wie das Leben läuft. Aber dann gibt es so vieles, sei es Armut, sei es Gewalt, seien es gesellschaftliche Widerstände, die einen in die Ecke drücken. Warum fangen Menschen an zu trinken? Vielleicht weil sie kein Selbstbewusstsein haben, weil der Alkohol sie ihre Ängste vergessen lässt.
Dieses Schicksal der Mutter – soll man es gewissermaßen als emblematisch begreifen für das Leben von Frauen in einer männlich dominierten Gesellschaft? Diese Abhängigkeit einer Frau von ihrem Mann noch in der Entwicklung einer Alkoholsucht?
Diese Abhängigkeit gibt es natürlich nicht immer, aber sie ist üblich, und das auf viele verschiedene Arten. Nehmen Sie einen Mann und eine Frau, die beide die gleiche Qualifikation haben. Wenn die Frau diejenige ist, die mit den Kindern zu Hause bleibt, und er ein Leben außerhalb des Hauses führt und Erfahrungen in der Arbeitswelt macht, dann passiert da natürlich etwas.
Sie sprechen jetzt in der Gegenwartsform. Ihr Roman spielt allerdings in den Siebzigern. Und Schweden hat den Ruf …
… (Lachen) Oh, Sie sollten nicht alles glauben, was Sie hören!
Auf jeden Fall gibt es große Unterschiede zu Deutschland. Die Diskussion feministischer Fragen steht viel mehr auf der gesellschaftlichen Agenda als hierzulande.
Wir haben sogar eine feministische Partei! Feministiskt initiativ, abgekürzt Fi. Ja, es gibt in Schweden eine gute Kinderbetreuung und andere Dinge, die großartig funktionieren. Aber wir haben auch immer noch eine Menge Probleme.
Wie weit reicht denn der Einfluss der Fi?
Bisher haben sie es nicht geschafft, ins Parlament zu kommen, aber sie sind schon jetzt ein Stachel im Fleisch der schwedischen Politik. Gudrun Schyman, die langjährige Vorsitzende, bewegt in Südschweden, wo sie lebt, sehr viel und bekommt dafür eine Menge Aufmerksamkeit in den Medien. Da gab es zum Beispiel ein kommunales Entscheidungsgremium, in dem fast nur Männer saßen und es um die feministischen Aspekte von Lokalpolitik ging.
Dabei hieß es zum Beispiel: Also hört mal, die Schneebeseitigung ist doch wirklich kein Thema, das wir auch von der feministischen Seite betrachten müssen! Und Gudrun Schyman fragte: Aha, ja, aber wo fangt ihr denn an, den Schnee zu räumen? Vor den Kitas und Schulen oder wo? Dann hat man nachgeforscht, wo man normalerweise anfängt, den Schnee zu räumen. Und alle haben sehr viel darüber gelernt, wie die Gesellschaft funktioniert. Denn natürlich hat man zuerst dort geräumt, wo sich die Männer bewegen.
Haben Sie das Gefühl, dass Sie auch als Schriftstellerin gesellschaftlich etwas bewirken können?
Ja, auf jeden Fall. Obwohl das wirklich nicht das war, worauf ich hingearbeitet habe. Aber im Grunde bin ich deswegen gar nicht so überrascht. Ich selbst benutze Bücher auch auf diese Weise: dass man zum Beispiel, wenn jemand Probleme hat, sagt, du solltest dieses oder jenes Buch lesen, das könnte dir helfen. Gute Bücher werden benutzt.
Sie sprechen von Romanen?
Ja. Romane sind noch wichtiger als andere Bücher. Das hat mit der Sprache zu tun. Wenn man ein Bild ansieht, dann hat die Art, wie es gemalt ist, Einfluss auf die Art, wie man sieht und fühlt. Mit einem Roman ist es dasselbe. Wenn man für das, was man zu erzählen hat, die richtige Sprache findet, dann bewirkt das etwas.
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