Schriftstellerin Verena Stefan: "Ich bin keine Frau. Punkt."
Verena Stefan schrieb 1975 "Häutungen" - ein literarisches Experiment über die zerstörende Macht der Beziehung zwischen Mann und Frau. Ein Gespräch mit der Mutter der Frauenliteratur - zum Muttertag.
Wie wohl die Frau wirkt, die ihr literarisches Ich 1975 als "Kürbisfrau" bezeichnete? Der erste Blick konterkariert diese Vorstellung: Verena Stefan ist eher knochig, sehr klar in Blick und Konturen. In Kanada lebt sie, dort kann man sie sich gut vorstellen, mit viel Raum. Jetzt reist die Autorin mit ihrem neuen Buch, "Fremdschläfer", durch Deutschland und die Schweiz. Wir treffen uns nachmittags in Hannover. Sie wohnt dort bei einer Freundin in einem Mietshaus, dem die Frauenbewegung noch anzusehen ist: Eine Frauenstiftung ist hier untergebracht, Zeitschriften liegen im Flur, eine Schreibtafel für Nachrichten baumelt an der Wand.
taz.mag: Frau Stefan, 1968 kamen Sie aus Bern nach Berlin. Sehen Sie sich als 68erin?
Verena Stefan: Eher indirekt.
Sie waren 20. Also im besten Protestalter, sollte man meinen.
Ich machte damals eine Krankengymnastikausbildung und hatte mit dem SDS nichts zu tun. Aber eines Tages, es war 1971, kam Helke Sander zu meinem damaligen Freund, einem Mediziner, und wollte Material über die pharmazeutische Industrie und die Pille abholen. Sie hatte angefangen, mit anderen Frauen an einem Buch zu arbeiten, das dann zum "Frauenhandbuch Nr. 1" der Gruppe "Brot und Rosen" wurde. Bei diesem Gespräch hat es bei mir "klick" gemacht. Ich dachte: Die will ich kennenlernen, dabei möchte ich mitmachen. Dann gings los, mit Frauenkongressen und Aktionen zum Paragrafen 218.
Wie kam es zu dem Buch "Häutungen"?
Unsere "Brot und Rosen"-Gruppe sollte für das Kursbuch einen Beitrag schreiben: "Wie ist die Emanzipation der Frau mit der Beziehung zu einem Mann zu vereinbaren?" Wir haben uns sehr amüsiert, weil wir meinten, das sei eher nicht vereinbar. Zu dem Text kam es so dann doch nicht, weil wir in Berlin 1974 das große Teach-in gegen den Paragrafen 218 organisierten. Aber ich hatte schon angefangen zu schreiben. Und ich konnte nicht mehr aufhören. Das war wie ein Dammbruch. Ich hatte meine Notizbücher zum Glück aufbewahrt, ich las sie wieder, und es fiel mir wie Schuppen von den Augen: Sie waren das Zeugnis einer einzigen Gehirnwäsche. Daraus ist das Manuskript entstanden.
Hatten Sie Vorbilder?
Es gab Simone de Beauvoir, Kate Millett und Shulamith Firestone. Man hat noch jedes Buch einzeln entdeckt: Christa Wolfs "Nachdenken über Christa T.", zum Beispiel, oder "Die Glasglocke" von Sylvia Plath. Es gab noch keine Bibliotheken und Frauenbuchläden, voll mit Literatur von Autorinnen. Aber in den USA gab es das alles. 1974 habe ich dort drei Monate alle möglichen feministischen Einrichtungen abgeklappert, Buchläden, Verlage, Galerien und Frauenzentren.
"Häutungen" gilt als Kultbuch der Frauenliteratur. Eine Ikone. Wie war das für Sie?
Das Buch hat sofort zwei Fraktionen geschaffen, im Lesepublikum und in der Literaturkritik, die es eigentlich bis heute noch gibt. Es gab euphorische Zustimmung, differenzierte Untersuchungen und entschiedene Ablehnung von Kritikern und Kritikerinnen. Einige sagten: Aber das ist keine Literatur, das ist ein Bekenntnis, ein besseres Tagebuch.
Wie haben Sie selbst das Buch bezeichnet?
Für mich war es ein literarisches Experiment, ich habe mit Sprache und Form experimentiert. Ich bin sicher durch die feministische US-Literatur beeinflusst gewesen. Im deutschen Literaturbetrieb gibt es immer Aufpasser und Aufpasserinnen, die dir sofort sagen, was du falsch gemacht hast. Man ist nicht sehr experimentierfreudig. Man gesteht einer Frau nicht zu, ein Experiment zu machen. Das ist auch sehr deutsch: Darf man das? Ist das richtige Literatur? Nein, das ist falsche Literatur.
Hat Sie das angefochten?
Ja, sehr. Aber dieses Buch war unvermeidlich. Ich wollte immer schreiben. Schon als Kind. Meine Mutter hat schon geschrieben, wenn auch ohne zu veröffentlichen. Das Buch musste zu diesem Zeitpunkt einfach raus, es ist aus mir herausgestürzt.
Geboren als Kind eines sudetendeutschen Vaters und einer Schweizer Mutter in Bern. Seit 1968 in Berlin, Ausbildung zur Physiotherapeutin. Ab 1973 Studium der Soziologie und vergleichenden Religionswissenschaft. Seit 1972 Mitglied der feministischen Gruppe Brot und Rosen, Mitarbeit am Frauenhandbuch Nr. 1. 1975 erscheint "Häutungen" als erstes Buch im neu gegründeten Verlag "Frauenoffensive". Stefan lebte lange auf dem Land und leitete Schreibkurse in der Schweiz und in Deutschland. Seit 2000 in Montreal, Kanada.
Nach "Häutungen" erscheint von Verena Stefan u. a. 1980 "Mit Füßen und Flügeln" (Frauenoffensive, München), 1987 "Wortgetreu ich träume. Geschichten & Geschichte" (Arche, Zürich), 1993 "Es ist reich gewesen. Bericht vom Sterben meiner Mutter" (Fischer Taschenbuch) und 2007 "Fremdschläfer" (Ammann Verlag, Zürich). OES
Wie sehen Sie "Häutungen" heute?
Ich habe mich damit in eine anderes Leben katapultiert. Als "Häutungen" überall besprochen wurde und sich immer besser verkaufte, fand ich mich mit einem Mal an einem anderen Ort vor, nicht mehr wie die meisten anderen innerhalb der Frauenbewegung. Es gab viel Neid, Ressentiments, Häme und ebenso viel Bewunderung und Glorifizierung. Beides war gleich schwer zu verkraften. Allerdings hätte ich gerne eine gute Lektorin gehabt, mit der ich bestimmte Dinge hätte diskutieren können. Das gab es nicht. Aber so war es eben, es war alles ein Experiment. Der Verlag war neu, Zeitschriften waren neu. Wir haben uns selbst neu erfunden.
Was hätten Sie mit einer Lektorin diskutieren wollen?
Ich hätte die Erfahrungen mit der lesbischen Liebe anders schreiben können. Das war zu früh. Die Erfahrungen waren noch zu frisch, ich war wie in einem Rausch und hatte zu wenig Abstand. Ich hätte eine andere Form finden müssen.
Zunächst haben Sie ja über die Liebe zu Männern geschrieben. Da heißt es: "Liebe ist eine tausendfache verwechslung von begehrtsein und vergewaltigt werden." Ist das heute auch so?
Dieser Satz hat ins Mark der heterosexuellen Welt getroffen. Sie sehen ja, welchen Zwängen junge Mädchen heute ausgesetzt sind, was Attraktivität oder Sexualpraktiken betrifft. Das ist angereichert und verschärft durch Videos, Internet, Pornografie. Sie haben die Machtstrukturen auf ungeahnte Weise verfestigt.
"Ich gebe mir mühe, alles richtig zu bewegen, bis er einen orgasmus hat", haben Sie geschrieben. Die Selbstauskünfte von jungen Frauen heute sind andere. Auch Sexualforscher sehen einen fundamentalen Wandel - hin zu einer konsensualen Sexualität. Glauben Sie das alles nicht?
An dem Punkt würde ich ganz genau wissen wollen, was "konsensual" heißt, wer Lust und Befriedigung definiert und wie. Die Jüngeren, die Schülerinnen, sind doch Zwängen ausgesetzt. In Montreal wurde vor zwei Jahren eine Studie veröffentlicht, in der gängige Sexualpraktiken der Vierzehn- bis Achtzehnjährigen untersucht wurden, Gruppensex, Oralverkehr und Analverkehr mit mehreren Jungs, alles ohne Schutz. Darauf kamen viele Leserinnenbriefe von Schülerinnen, die schrieben: Endlich sagt es mal jemand.
Sehen sich die Jungs nicht durch den Gruppendruck genauso genötigt?
In solchen Situation nötigen die Jungs die Mädchen. Der Gruppenzwang ist enorm, und die Struktur ist offensichtlich. Es geht um die Befriedigung der Jungen, die Mädchen bedienen sie. Die erste Erfahrung, die Mädchen machen, ist oft von einer solchen Machtbeziehung geprägt. Und im Übrigen auch von einem Zwang zur Heterosexualität. Alle wissen, dass man lesbisch oder schwul sein kann, aber man darf nicht dazugehören, das ist der soziale Tod in diesem Alter.
Das ist aber doch auch ein Problem der Pubertät. Extreme Polarisierungen, blöde Geschlechterrollen. Da wächst man doch heraus, oder?
Das kann ich nicht beurteilen. Ich habe den Eindruck, die Jugendlichen geraten eher stärker in etwas hinein. Oft wird das Ganze ja gleich noch gefilmt und übers Internet vertrieben, so wie es inzwischen üblich ist, dass Jugendliche sich Gruppenvergewaltigungen per Handy zuschicken. Wissen Sie: Die Definition, wie die heterosexuelle Welt konstruiert ist, ist gleich geblieben. Die soziologische Pyramide besteht fort: Die Spitze ist weiß, heterosexuell und männlich. Alles andere ist weniger wert. Wenn man zur Frau erklärt wird, wird man zu einem Wesen gemacht, das in die Kategorie "anders" gehört. Deshalb wollte ich mich nicht zur "Frau" reduzieren lassen. Ich wollte ein Mensch sein.
Das heißt, Sie sind keine Differenzfeministin, die die Weiblichkeit an sich aufwerten möchte?
Richtig. Damals gab es diese Theorie übrigens noch gar nicht. Alix Dobkin sang 1973 den Ohrwurm "The woman in your life is you". Ich aber wollte nicht in die Kategorie Frau gehören. Ich habe am Schluss von "Häutungen" geschrieben: "Der MENSCH meines lebens bin ich." Das heißt: In der Welt sein. Hinausmarschieren und werden, was man werden will. Nicht eingeschränkt sein. Reisen können, nachts auf der Straße sein können. Wenn man sich zuerst als Frau definiert, dann muss man gegen das Klischee und gegen die Rolle arbeiten. Das wollte ich nicht, ich wollte ein Mensch sein. Die Theoretikerin Monique Wittig sagte: "Ich bin keine Frau". Punkt.
Und was ist denn nun das Ziel der Feminismus, wenn es nicht die Aufwertung von Weiblichkeit ist? Gleichheit?
Nein, eben gerade nicht, wenn Gleichheit an männlich, weiß, hetero gemessen wird.
"Ich möchte mit keines mannes verkümmerung gleichberechtigt sein", schrieben Sie in "Häutungen".
Wenn wir jetzt diskutieren wollen, wie die heterosexuelle Struktur beseitigt werden könnte, sitzen wir morgen früh noch hier. Aber eines ist klar: Der Gedanke "Wenn alles schiefgeht, kann eine Frau heiraten" ist pures Gift, mentales Gift. Dieser Gedanke schwächt: Man bekommt Anerkennung dafür, dass man sich in einen goldenen Käfig setzt.
Na ja, aber heute sagen 85 Prozent der jungen Frauen, etwa in der neuen Brigitte-Studie, sie wollen finanziell unabhängig sein. Da hat sich doch einiges verändert.
Ich habe gerade gehört, wie schlecht die Situation von Frauen in Deutschland und Österreich im EU-Vergleich aussieht, was gleiche Bezahlung, Vollbeschäftigung und Positionen im höheren Management angeht. Der Konflikt Kinder oder Karriere scheint doch hochaktuell zu sein, überhaupt nicht gelöst.
Die jungen Damen heute verstehen die Entfremdungserfahrungen, die Sie beschrieben haben, ebenso wenig wie die Freiheitsversprechen Ihrer Generation. Dieses Denken lässt sich offenbar schlecht vererben.
Da bin ich nicht so sicher.
Ein Buch wie "Häutungen" gibt es heute nicht mehr. Stattdessen dominieren Ratgeber zur Alltagsbewältigung: "Die weibliche Art, sich durchzusetzen", oder so.
Heute hat man dreißig Jahre mit diesem Buch gelebt. Diese Ratgeber sind eine Folge unserer radikaleren Bücher.
Aber die Heilserwartung Ihres Denkens ist daraus völlig verschwunden.
Heilserwartung? Hatten wir nicht. Wir hatten ein utopisches Denken, das stimmt. Wir wollten die Welt verändern. In allem. Und nicht nur wir: Das war eine weltweite Bewegung. Das können Sie sich gar nicht mehr vorstellen. Heute gibt es das ganze ökonomische und feministische Wissen. Damals gab es nichts. Plötzlich ging eine Tür auf, und da war ein völlig neues Zimmer mit völlig neuem Wissen. Ein neuer Blick auf die Wirtschaft, die Gesellschaft, die Geschichte. Wir fanden wieder, was der herrschende Blick alles aussortiert und in den Keller verbannt hat.
Die Frauen zum Beispiel?
Ja, dazu gehörten in erster Linie auch die Frauen. Künstlerinnen, Denkerinnen. Die finden Sie alle im Keller wieder, eine ganz neue Geschichte. Dass eine Frau aufstand und sagte: "Ich bin übrigens anderer Meinung. Ich denke mir das so und so", das war eine Revolution. Und plötzlich gab es ganz viele von diesen Frauen mit so vielen Gedanken. Es war reine Euphorie. Sie sprechen von "Entfremdung": Es war das Gegenteil: Wir haben uns zum ersten Mal "wirklich" gefühlt. Wenn ich durch eine Straße gehe, bin ich wirklich da. Weil ich eine Verabredung habe, mit anderen Frauen. Weil es uns brennend interessiert hat, wie wir die Welt sehen, wie wir denken.
Die Protagonistin in "Häutungen" verlässt ihren Freund, gerade als er anfängt, Verständnis für sie zu entwickeln. Das legen Ihre KritikerInnen als Männerfeindlichkeit aus. Ihre Lösung ist die lesbische Liebe, die heterosexuelle geht nicht.
Das habe ich damals ja auch so gemeint. Die heterosexuellen Beziehungen waren doch auch so strukturiert, gerade in der Linken: Die Männer reden, die Frauen kochen Kaffee.
Und Sie pflegen da nicht vielleicht ein lieb gewonnenes Feindbild? Meinen Sie denn heute auch noch, heterosexuelle Liebe gehe nicht?
Heute gebe ich keine Programme mehr aus. Damals war ein missionarischer Eifer dabei. Heute meine ich, dass jeder Mensch das selbst entscheiden muss.
Aber die Heteras fügen sich der Geschlechter-Machtordnung?
Es gibt heute individuell sicher andere Möglichkeiten. Aber die Machtfrage ist ein strukturelles Problem, auf dem unsere Welt aufgebaut ist, mit der wir aufwachsen wie mit der Luft, die wir atmen. Machtfragen entstehen in allen Beziehungen, auch in lesbischen.
"Liebe zwischen Frauen heilt", haben Sie dennoch in dem nachfolgenden Buch "Mit Füßen und Flügeln" postuliert. Da war sie noch, die Heilserwartung, oder?
Es geht nicht um eine Heilserwartung. Es geht darum, dass wir in einer Art Parallelwelt lebten. Da muss man sich immer wieder versichern, dass man noch da ist, dass man existiert. Und deshalb ist die Bestätigung von anderen Frauen so wichtig: Ja, es gibt dich, und das, was du denkst, ist nachvollziehbar. So würde ich heute diesen Satz übersetzen, "Liebe zwischen Frauen heilt". Es hat mit Verifizieren zu tun: Du spinnst nicht. Du bist nicht verrückt. Was du wahrnimmst, existiert tatsächlich. Mit meinem neuen Buch mache ich übrigens gerade höchst merkwürdige Erfahrungen. Ich treffe auf Literaturkritiker, die sich dunkel an "Häutungen" erinnern und nun denken: "Oho, die ist Feministin, da muss ich mir eine Frauenfrage einfallen lassen." Verstehen Sie, in diesem Verhalten kommt alles, was wir angesprochen haben, wieder zum Vorschein: Eine Feministin ist die Andere, eine Fremde, nicht ein Mensch, mit dem man über alles diskutieren könnte. Die Frauenfrage gehört immer noch nicht selbstverständlich zur Allgemeinheit.
Sie sind gereist, um Spuren von Matriarchaten zu finden. Das hat Sie auch in den Ruch des Differenzfeminismus gebracht.
Von mir aus. Was hat man mir nicht alles vorgeworfen. Ich war auf der Suche nach einer anderen Ikonografie. Es geht um Bildwelten.
Silvia Bovenschen schrieb damals, diese Suche nach Matriarchaten sei ein hoffnungsloses Unterfangen: "Ihre Reiche sind erloschen, ihre Macht reicht nicht herüber."
Da bin ich anderer Meinung. Diese Bilder sind in unserem Unbewussten virulent. Wenn Göttinnenbilder zum Vorschein kommen, hat das einen Einfluss auf uns, es verändert die symbolische Ordnung: Es waren nicht immer nur die drei männlichen Hanseln da, wie etwa im Christentum. Das ist Bestandteil unserer geistigen Rumpelkammer: Es gab Bilder von weiblichen Figuren, die mächtig waren, im Vollbesitz ihrer Macht. Genauso wie es wichtig ist, zu sehen: Es gibt Frauen als Staatsoberhäupter. Das ist enorm wichtig, weil es die unbewusste Ikonografie verändert. Vor-Bilder im wahrsten Sinn des Wortes.
Das erste Bild der Frau, das man erhält, ist das der Mutter. "Ich möchte von einer kühnen und attraktiven Frau abstammen", haben Sie in einer Betrachtung formuliert. Ihre Mutter war das nicht, oder?
Meine Mutter hat nicht an sich und ihre Fähigkeiten geglaubt. Sie hat geheiratet, weil sie sich ein Studium nicht zugetraut hat. Das war schade, denn sie war sehr begabt.
Die sehr negative Darstellung der Männer in Ihrem Buch "Häutungen" sei eine Verschiebung des Hasses auf Ihre Mutter, sagt eine Analyse ihres Buches.
Das ist absurd. Meine Mutter versuchte, mich zu zähmen, was nicht funktioniert hat. Das hatte damit zu tun, dass mein Vater ein deutscher Einwanderer in der Schweiz war. Ich sollte überkompensieren und ein nettes Schweizer Mädchen sein. Ich war aber ein wildes Gör. Sie hat mir ein klassisches Doublebind vermittelt: Du kannst alles werden, du kannst alles machen. Aber so, wie du bist, kann ich dich nicht akzeptieren.
Ist die Frauenbewegung entstanden, weil viele Frauen auf der Suche nach einer starken Mutter waren?
Nach starken Frauen. Wir hätten niemals nach Müttern gesucht. Wir haben doch etwas Neues gewollt.
Etwas hat Ihre Mutter Ihnen doch mitgegeben, einen Fluch, mit dem Sie tatsächlich mal zudringliche Männer abgewehrt haben. Wie ging der?
"Du verflünerete Soucheib, du." "Du verfluchter Kadaver", falls man das überhaupt übersetzen kann. Das war die Heldengeschichte meiner Mutter. Sie hat damit nach dem Krieg angeblich die russischen Soldaten abgeschreckt, die Frauen vergewaltigen wollten. Kein Mensch weiß, ob das stimmt. Aber mir hat der Fluch tatsächlich geholfen.
Sie plädierten damals dafür, "frau" statt "man" zu sagen. Ist Sprachreform immer noch Ihr Anliegen?
Das war nie mein Anliegen, das war ein Gedankenexperiment, damit kann man spielen.
Und heute fühlen Sie sich nun doch in der Sprache heimisch und wollen nichts mehr verändern?
Ja. Sprache, das geschriebene Wort ist tatsächlich meine wichtigste Heimat, eine, die mir immer geblieben ist. Es geht mir nur darum, alles in diese Sprache zu "übersetzen".
Was ist inzwischen passiert?
Gute Frage. Schreiben ist immer eine Arbeit an der Sprache. Für diese Auseinandersetzung kann man keine einfachen Regeln vorgeben.
Hat Ihr aktuelles Buch "Fremdschläfer" noch etwas mit "Häutungen" zu tun?
Insofern es einen roten Faden durch alle meine Bücher gibt, die mit dem Menschsein zu tun haben. In "Fremdschläfer" geht es um Fremdheit und um Orientierungssysteme. Meine Emigration nach Kanada war eine unerwartete Erschütterung. Vor vierzig Jahren sagten wir, Frauen sind die Fremden im Patriarchat. Als Lesbe wird dieses Fremdsein verstärkt, manchmal auch unter Frauen. Eigentlich hätte ich im Fremdsein so routiniert sein müssen, dass das Auswandern nur eine weitere Variation des Themas hätte sein können. Aber ich musste entdecken, dass ich mich noch auf eine ganz andere Art fremd fühlen kann. Es war eine ganz allgemeine menschliche Erfahrung, die nichts mit dem Frausein zu tun hatte.
Als Frau hat man kein Exklusivabo aufs Fremdsein.
Nein, aber wie gesagt, es geht um strukturelle Fragen, und der Fremdheitsfaktor ist in der Chose von vornherein eingebaut. Die Einwanderungserlaubnis in Kanada bekommt man nach einem Punktesystem. Und ich bekam für meine lesbische Beziehung genauso viele Punkte wie andere für eine heterosexuelle. Ich war weder als Frau noch als Lesbe die "Andere", sondern ich war einfach eine Einwanderin wie alle anderen auch. Ich habe mich noch nie so sehr als Mensch gefühlt.
Ein Hoch auf die Einwanderungspolitik Kanadas.
Die war in meinem Fall nicht stigmatisierend. Trotzdem hat es mich aus der Bahn geworfen, mich mit 50 Jahren in einem völlig anderen kulturellen Kontext zu befinden. Und dann die Fremdheit in der Sprache. Dazu kamen noch der Krebs und die Chemotherapie. Erst wollte ich gar nicht über Krebs schreiben, aber die Krankheit hat mir eine bestimmte Erzählperspektive gegeben. Da passiert etwas im Gehirn, da löst sich etwas auf. Da verliert man wirklich die Orientierung. Ich hatte einen Fluss überquert, ins Reich der Kranken. Ich konnte nun das Krankheitsufer nehmen und davon auf das andere Ufer zurückblicken und sehen, was ich dort in der Fremde alles gelernt habe.
Lange haben junge Frauen den Feminismus als gestrig begraben, jetzt gibt es wieder Forderungen nach "neuem Feminismus". Wie sehen Sie das?
Wissen Sie, der Feminismus ist ja schlicht eine Methode des kritischen Denkens. Wenn man sich für die Veränderung der Machtstrukturen interessiert, ist es die einzig vernünftige Methode. Dass man davon wieder mehr haben will, ist doch sehr wünschenswert. Die Frauen werden bombardiert mit einer sehr engen Vorstellung davon, was weiblich ist. So viele von unseren Ideen und allem, was wir ausprobiert haben, haben nicht weitergelebt. Ich glaube, wir haben sie auch nicht intensiv genug weitergegeben, das war eine Schwäche. Kürzlich war ich in Graz auf einer Tagung, auf der auch die Frage gestellt wurde, ob es von Vorteil oder von Nachteil sei, feministische Autorin oder überhaupt Feministin zu sein. Ich habe mir das Vergnügen gemacht, einmal nur von den Vorteilen zu sprechen. Wie viele großartige Frauen hätte ich in den letzten 38 Jahren nicht kennengelernt! Vier internationale feministische Buchmessen hätte ich verpasst! Wie viele Reiserouten wären mir entgangen!
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