Schriftstellerin Magdalena Tulli: "Nur im Unglück sind wir geeint"
Noch herrsche Staatstrauer, Kritik an den tödlich verunglückten Präsidenten Kaczynski werde deshalb nicht laut geäußert, sagt die polnische Schriftstellerin Magdalena Tulli.
taz: Frau Tulli, warum protestieren Polen gegen die Beisetzung des tödlich verunglückten Präsidenten Polens in der Königsgruft des Wawel in Krakau?
Magdalena Tulli: Der Wawel gilt als polnisches Nationalheiligtum. Dort liegen unsere Könige, Heilige und Nationalhelden. Dass Kaczynski dort beigesetzt werden soll, legt nahe, er habe sich ähnliche Verdienste für Polen erworben. Und das ist nicht wahr. Die meisten Polen waren mit Kaczynski als Präsidenten unzufrieden. Er wäre kein zweites Mal gewählt worden. Daher die Proteste.
Warum sind die Proteste dann nicht lauter?
Noch herrscht Staatstrauer. Die meisten Polen wollen gerade in dieser Zeit gute Polen und gute Christen sein.
Als Kaczynski noch lebte, zählte er zu den unbeliebtesten Politikern. Warum fühlen sich seine Kritiker in Polen heute schuldig?
64, zählt zu Polens bekanntesten Schriftstellerinnen. 1995 erhielt sie den renommierten Koscielski-Preis für "Träume und Steine". Alle ihre Bücher wurden ins Deutsche übersetzt, zuletzt "Dieses Mal" (2010).
Kaczynski ist auf dem Weg nach Katyn gestorben, wo er der polnischen Offiziere gedenken wollte, die im Zweiten Weltkrieg dem Sowjetterror zum Opfer fielen. Die Pflicht zu gedenken haben wir alle. Wir sind aber zu Hause geblieben. Also sind Kaczynski und alle an Bord der Unglücksmaschine stellvertretend für uns alle gestorben. Deshalb entschuldigen sich jetzt sogar Intellektuelle wie Adam Michnik für ihre frühere Kritik an Kaczynski.
Erklärt das auch diese massenhafte Trauer der Polen um die Verunglückten?
Unserem Mythos zufolge müssen wir bereit sein, für Ehre und Vaterland zu sterben. Das gebietet der polnische Patriotismus. Aber wer will schon sterben? Diese vielen Menschen an Bord der Unglücksmaschine haben ein Opfer gebracht und sind also unsere Helden. Je mehr wir um sie trauern, umso patriotischer sind wir. Natürlich ist es auch eine menschliche Tragödie, aber eben auch eine nationale.
Aber auch die polnische Demokratie lebt doch vom Streit?
Im Grund genommen sind wir Polen Geisel eines Mythos, von dem wir uns einfach nicht befreien können. Wir haben in unserer Geschichte so viel Unglück erlebt, so viel Unfreiheit und Erniedrigung, dass das Opfersein zu unserer zweiten Natur geworden ist. So wie bei Menschen, die an einer unheilbaren Krankheit leiden. Polen können sich nicht wie andere Nationen über ihre Erfolge freuen. Denn nur im Unglück, nur in der Trauer sind wir geeint.
Sollte aber nun herauskommen, dass Kaczynski doch eine Mitschuld am Absturz trägt, bricht der Mythos dann in sich zusammen?
Das war der erste Gedanke, den wohl die meisten Polen hatten, als sie vom Absturz hörten. Denn wir alle erinnern uns, dass er 2008 mit drei anderen Präsidenten an Bord der Maschine den Piloten zwingen wollte, statt im sicheren Aserbaidschan zu landen, direkt Tiflis anzusteuern. Mitten im georgisch-russischen Krieg! Einer der Piloten, der damals in der Maschine saß und sich weigerte, in Tiflis zu landen, soll zwei Jahre lang die größten Schwierigkeiten gehabt haben. Aber darüber kann man nicht laut reden in Polen. Nicht in der Zeit der Staatstrauer.
Was, wenn nach der Staatstrauer das Protokoll des Flugschreibers veröffentlicht wird und sich der Verdacht bestätigen sollte?
Ich glaube nicht, dass wir jemals erfahren werden, was tatsächlich geschehen ist. Der Flugschreiber, der die Gespräche im Präsidentensalon aufgezeichnet hat, also auch die Frage des Piloten, ob er versuchen soll, trotz des Nebels zu landen, ist ja bereits in Warschau. Es wird wohl bei der Version des Pilotenfehlers bleiben. Denn sonst wäre Kaczynski womöglich für die Katastrophe mitverantwortlich. Das würde der polnischen Staatsräson widersprechen. Sollte es so gewesen sein, was wir aber nicht wissen, werden wir es sicherlich nie erfahren.
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