Schriftsteller Péter Esterházy gestorben: „Intelligent nichts verstanden“

Der Schriftsteller Péter Esterházy war ein versierter Erzähler. Nun ist er gestorben. Hier ein taz-Interview aus dem Jahr 2013.

Mann mit weißen langen Haaren und Brille draußen bei Sonnenschein

Péter Esterházy in Bremerhaven im Mai 2013 Foto: dpa

Erste Erinnerungen

(Ehrlich? Keine Ahnung.) Meine Urgroßmutter, von der ich dachte, sie sei die Königin von Tschechien, sitzt in Schwarz gekleidet vor dem Bauernhaus in einem übergroßen Sessel, es ist 1951, eher 52, wir sind quasi deportiert worden, und sie wird immer weitergeschoben – an die Sonne.

Kindheit

Für die Welt oder die ungarische Gesellschaft eine bewegte Zeit (Diktatur, 1956, Kádár), für mich ziemlich einfach. Ich war ein unproblematisches Kind, fleißig, ein bisschen klug, ein bisschen langweilig.

Mutter-Sohn-Beziehung

In den Augen meiner Mutter war ich ein außergewöhnliches Kind; sogar ein schönes. Sie hat die schönsten Augen der Welt.

Adel verpflichtet

Den Satz hörte ich zu Hause nie. Ich fürchte, man hat vermutet, dass wir das sowieso wissen; wenn nicht, dann eh zu spät.

Joseph Haydn

Schon ein Wunder, dass er jahrzehntelang ausgehalten hat in diesem ungarischen Kaff, bei diesem (oder mehreren) Fürsten. Mozart wäre einen Nachmittag geblieben, Beethoven eine Stunde.

K. u. k. Monarchie

Kádár und Kreisky, so lautete der mäßige Ulk in den siebziger Jahren. Alles andere siehe bei Musil.

Europäische Union

Langsam wäre Zeit herausfinden, was (wie, wer, wann) das ist. Ich bin dafür.

Bern 1954

Wieso, was war in Bern? Mir sagt das nichts. Nehme an, wieder so eine innerdeutsche Angelegenheit, Verzeihung, da möchte ich mich nicht einmischen.

Ferenc Puskás

Er hat bei einem 3:2-Rückstand ein absolut reguläres Tor geschossen (in Bern natürlich), haben sogar später die Deutschen zugegeben, das muss einmal klar gesagt werden. Wichtiger ist, dass ich ihm einmal die Hand geschüttelt habe. Auf Wunsch kann ich meine von ihm berührte (übrigens prunkvoll eingerahmte) Hand zeigen; für Kinder, Soldaten, Witwen (!): Halbpreis.

Die Nummer 8

Das war ich, spielte in der vierten Liga immer mit dieser Nummer. Maradona mit der 10, ich mit der 8, so war das damals.

Ungarn 1956

Einer der schönsten, hellsten Augenblicke der ungarischen Geschichte. Zurzeit Alibi für kleinkarierte, parteipolitische Zänkereien.

Leben im Sozialismus

Eher Überleben. Am Anfang der Diktatur, wo es wirklich hart war, als Notwendigkeit, in der späteren Phase, in der Softphase, als Selbstbetrug.

Studium der Mathematik

Ich habe ziemlich intelligent nichts verstanden. Es war ein großes Erlebnis, und nicht unbedingt ein schlechtes, die Grenzen meines Verstands zu erleben.

Deckname „Csanadi“

Siehe das Buch „Verbesserte Ausgabe“, könnte ich antworten, aber dann könnte man glauben, dass ich über die IM-Vergangenheit meines Vaters nicht nur nicht sprechen, sondern sogar nichts hören möchte. Das ist nicht so, ich denke oft an ihn, an sein schweres Leben, und will nichts verschönern, wenn ich sage, wie viel ich von ihm gelernt habe, wie viel ich ihm zu verdanken habe.

Lügen

Das Wort spielt in der Literatur nicht, hat keine Bedeutung. Ein Werk kann lügen mit lauter sogenannten wahren Sätzen und umgekehrt, mit Lügen zu der Wahrheit kommen.

Schreiben

Schriftsteller ist, dem das Schreiben ein Problem ist (Weisheit von Goethe oder Thomas Mann; alle Weisheiten sind von Goethe oder Thomas Mann). „Eine gute Feder“ zu haben – das ist nichts, kann angenehm sein, aber hat mit der Literatur nichts zu tun.

Schönster Satz

„Ich bin Jacob Horner, in gewisser Weise.“ John Barth: „Tage ohne Wetter“, „In a sense, I am Jacob Horner“. Das Buch erschien in Ungarn ziemlich früh, ich murmelte oft diesen Satz. Ein weiterer schöner Satz: „Es ist elend schwer zu lügen, wenn man die Wahrheit nicht kennt“ – es ist allerdings auch ein wenig geschmacklos von mir, ihn an dieser Stelle zu erwähnen (siehe „Harmonia Caelestis“).

Literarisches Vorbild

Einfach zu viele und zu triviale (auf der Hand liegende): vom Laurence Sterne durch Joyce bis Calvino. Oder von Cervantes durch Kosztolányi („Kornél Esti“!) bis …

Realität

Siehe Fiktion.

Fiktion

Siehe Realität. Aber das ist dann eher nur (!!!) ein Spiel mit den Wörtern. Und wie ein afrikanisches Sprichwort sagt: Wörter sind zwar schön, aber Eier legen tun die Hühner. Ich ahne, warum diese Begriffe da sind, meine Bücher tun sehr viel dafür, dass wir uns in diesem „Fiktion-Realitäts-Tanz“ nicht richtig auskennen sollen – aber dann stellt sich immer wieder heraus, dass das alles doch einfacher und brutaler ist. Durch Fiktion die Realität zu verändern oder zu beschreiben – trotz all der ernüchternden Erfahrungen gibt die Literatur dieses Ziel nicht auf, jedenfalls nicht meine Literatur. Oh, das sind jetzt mehr als zwei Sätze. Und noch mehr. Und noch – stopp.

Literaturkritiker

Soll unter uns bleiben, aber ich bin kein Feind der Kritiker, glaube nicht, dass die meisten frustrierte Möchtegern-Schriftsteller und dass diejenigen, die vernichtende Kritiken über meine wirklich hohe Kunst schreiben, Spione aus Moskau sind. „Ich kann keinen Wein richtig genießen“, sagte ein berühmter Weinkritiker, „weil ich ständig das zu Kritisierende suche“ – also das ist doch ein schweres Leben.

Identität

Aus einem anderen Text: Was ist das Deutsche? Das scheint eine schwere Frage zu sein. Nirgendwo wird diese Frage gestellt, mit einer Ausnahme, in Ungarn. Was ist das Ungarische, eine typisch ungarische Frage. Das verstehen nur Ungarn. Auch das hört sich wie eine ernsthafte Frage an. Mich interessiert das nicht besonders, doch ist das vielleicht nicht ganz richtig. A German is a German is a German is a German is a Hungarian. Jedes Wort ist ein Vorurteil – ist das das Deutsche?

Heimat

Ich habe eine Begabung dazu, mich heimisch zu fühlen. In der Heimat mich heimisch zu fühlen – dazu brauche ich mehr und mehr diese Begabung.

Viktor Orbán

Gerade sah ich eine Aufnahme aus dem Jahr 1989, wo ein schöner, begabter junger Mann spricht, klug und sympathisch, mit sichtbar außergewöhnlichen Kräften. Zum Weinen ist das.

Rechtsruck

Ist das nicht wie ein Pendel?

Landesverräter

Meinen Sie mich? Ach nicht doch wieder … wie fad …

Zensur

War nie richtig definiert (meine vor 1990) was genau ja und nein. Also Zensur führt zwangsläufig zur Selbstzensur. Bei Selbstzensur kann man nur verlieren; viele, die erst jetzt dieser ekelhaften Erscheinung begegnen, wissen das nicht. Kotzenhaft, gibt es dieses Wort? Könnte ich jetzt gut brauchen.

Freiheit

Man hat gedacht, Freiheit ist gleich Glück und die Russen gehen weg und wir sind schon glücklich, auch unsere Geliebte kommt zurück. In Osteuropa ist fast jeder ein bisschen enttäuscht von der Freiheit. Wir dachten, fürchte ich, Freiheit ist wie ein Urlaub am Mittelmeer: Sonne, schöne Menschen, Prosecco. An andere Begriffe haben wir jedoch nicht gedacht: Verantwortung, Arbeit, Wettkampf, Geld (besonders Geld haben).

Frauen

Ungarn ist ein Macholand. Wo starke Frauen das Wort haben.

Männer

Als Mann war (ist) George Tabori mein Vorbild. Ohne männlich sein zu wollen ein Mann zu sein; sanft, leise, aber auch nicht ohne Kraft. Die üblichen europäischen Vorbilder sind unbrauchbar. (Im besten Fall sind sie selbstironisch.)

Erotik

Dem Schriftsteller, der keine erotische Beziehung zur Sprache hat, glaube ich nicht. Man kann nur schreiben, wenn diese Beziehung da ist.

Sex

Sex! Und noch ein Satz.

Liebe

Ich dachte, das war etwa vor 50 Jahren, dass ich verliebt bin, und dann plötzlich bemerkte ich, sie hat dicke Knöchel (!), und dann plötzlich war ich nicht mehr verliebt. Und dann in panischer Angst: Wenn das so schnell weg ist, schon von einem Knöchel, dann werde ich vielleicht nie mehr verliebt sein, vielleicht bin ich unfähig dazu. Das hat mich damals lange lange Zeit bedrückt, etwa eine Woche lang; es war schrecklich, diese Vorstellung.

Ehe

Schon ein Abenteuer, ein spannendes. Meistens zu kurz oder zu lang.

Seitensprung

Bedeutet laut Duden: Sprung zur Seite (veraltet). Wir Kinder spielten im Dorf auf der Straße. Ganz unerwartet und schnell kam auf einmal ein Traktor, ich sprang zur Seite und riss das kleine Mädchen mit mir. So rettete ich ihr Leben. Nach 15 Jahren hatten wir, laut Duden, eine kleine Eskapade. Ein Techtelmechtel. Eine Affäre. Diese kleine Geschichte trägt den Titel, laut Duden: Circulus vitiosus. Oder eher: Teufelskreis. Zwei Sätze, meinten Sie? Aber wie?!

Vatersein

Eine schwierige Gattung. Es gibt einen nicht erkennbaren, heimlichen Moment, wo der Vater bei seinem Kind sein muss (was auch immer das bedeutet). Und man weiß nicht, ob dieser Moment schon vorbei ist oder noch kommt, aber wenn du ihn verpasst hast, dann kannst du von mir aus jeden Tag mit dem Kind in den Zoo gehen, bei allen Hausaufgaben dabei sein – trotzdem hast du deine väterlichen Pflichten, die wir nicht genau kennen, nicht erfüllt.

Träume

Ich bin ein unbegabter Träumer. Meine Mutter war eine gute, ich baute ihre wilde Träume in das Buch „Die Hilfsverben des Herzens“ ein, so wurde auch ich ein wenig wilder.

Sehnsucht

Die treibende Kraft der Welt. Wenn nichts fehlt – na ja, dann sind wir schon im Himmel. Ein schrecklicher Gedanke. In der Hölle dagegen fehlt alles – das ist auch nicht ideal. Also ewig leben. Bitte nicht. Also was dann …

Ängste

Siehe Sehnsucht.

Geheimnisse

Als Kind dachte ich, dass dieses Wort von „geh heim“ kommt, also nach Hause, weil dort, zu Hause, ist alles klar, offen, dort gibt es keine Geheimnisse, sprich: Überraschungen. Das ist nicht ganz so.

Feinde

Mich langweilt das Negative, habe ich einmal bei Handke gelesen. Feinde, die man nicht kennt, die sind schon furchterregend; Dolch im Rücken …

Glück

Den richtigen deutschen Artikel zu erraten ist eine Glücksache. Und der zweite Satz: Nur der gute Tormann hat Glück.

Schönheit

Schwer zu glauben, aber es wird erzählt, dass ich als Baby oder Kleinkind nicht besonders schön gewesen sein soll. Als dann später meine Mutter mich besänftigen wollte und sagte, mein Mund sei so schön – wurde ich ruhig.

Budapest

Ich bin hier zu Hause, das heißt, ich nehme alles ernst. Neonazi-Demonstration am Kurfürstendamm, das Problem sollen die Deutschen lösen. Dasselbe in Budapest: Magenkrampf. So hat es die arme Stadt nicht leicht mit mir.

Berlin

Mag ich sehr. Bin ein Fremder da, habe also keine Verantwortung, nehme nur das wahr, was ich gern habe, und davon gibt es eine Menge.

Angela Merkel

Einer der ersten Sätze, den ich in Österreich gehört habe: „Wos wos a Fremder“, etwa so. Von hier, von Weitem gehört sie zu den wenigen Politikern, gegenüber denen ich Vertrauen habe. Wählen würde ich sie wohl nicht.

Hoffnungen

Wie war das …? Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst, ja, das sollte die österreichische Version sein und die deutsche natürlich: ernst, aber nicht hoffnungslos. Die erste gefällt mir, die zweite hoffe ich.

Utopien

Keine.

Lebensmotto

Habe keines. Müsste eines erfinden … Also das erste und das letzte Wort in meinem neuen Buch ist: „Sich freuen.“ Imperativ.

Altsein

Als Fußballer war ich schon mit 35 alt. Das war erniedrigend. Das jetzige ist nur ermüdend. Aber es wird sich ändern, wird noch schlimmer – so lese ich.

Glauben

Der glaubt, der steht in Versuchung des Nicht-Glaubens, und umgekehrt, der nicht glaubt, wird attackiert vom Glauben. Eine Ruhe gibt es nicht.

Gott

Neulich sprach er zu mir … was war das … Also „später werde ich über das alles Genaueres schreiben“.

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