Schriftsteller Nedim Gürsel über Religion: „Die Türkei wird immer religiöser“
Wegen seines Romans „Allahs Töchter“ stand Nedim Gürsel in der Türkei vor Gericht. Ein Gespräch über Parallelen zur Rushdie-Affäre und Prophet Mohammed als Romanfigur.
taz: Herr Gürsel, was hat Sie dazu bewogen, einen Roman über den Islam zu schreiben?
Nedim Gürsel: Der Prophet Mohammed war ein Held meiner Kindheit. Damals las ich Comics, die von Cowboys in Amerika oder türkischer Geschichte handelten. Und ich fragte mich, warum es keine Comics über das Leben des Propheten gibt. Ich hätte so etwas gerne gelesen. „Allahs Töchter“ handelt vom magischen Einfluss der Religion auf ein Kind. Es ist ein Roman, der versucht, den islamischen Glauben zu verstehen und zugleich zu hinterfragen.
In der Türkei hat Ihnen das ein Verfahren eingebracht. Man warf ihnen vor, religiöse Gefühle zu verletzen.
Das hat mich überrascht. Am Ende wurde ich zwar freigesprochen. Aber weil sich das Verfahren ein Jahr lang hinzog, wurden radikale Islamisten darauf aufmerksam, ich wurde bedroht.
Warum hat Sie das überrascht? Seit der Rushdie-Affäre ist doch bekannt, was passieren kann, wenn ein Roman an religiösen Tabus rührt?
Ganz ehrlich, so eine Reaktion habe ich nicht erwartet, denn mein Roman unterscheidet sich grundlegend von Rushdies „Satanischen Versen“. Sein Tonfall ist teilweise höhnisch. Ich dagegen habe versucht, in die innere Welt des Propheten Mohammed einzutauchen. Dass ich dabei auch auf sein Privatleben eingegangen bin, besonders auf sein Verhältnis zu den Frauen, hat manche wohl provoziert. Aber dass das Religionsministerium der Türkei eine Art Fatwa ausgesprochen hat, die besagt, in meinem Roman werde der Islam beleidigt, hat mich besonders erstaunt und betrübt. Denn die Türkei ist ein laizistischer Staat – da kann es doch kein Verbrechen sein, die Religion zu kritisieren.
61, zählt zu den renommiertesten Schriftstellern der Türkei. Seit 1971 lebt er – mit Pausen – in Paris, wo er bis heute an der Sorbonne lehrt. Seine Bücher wurden vielfach ausgezeichnet und in viele Sprachen übersetzt. Besonders erfolgreich war sein historischer Roman „Der Eroberer“ (1998) über Sultan Memed II., der Konstaninopel einnahm. „Allahs Töchter“ ist jetzt auf Deutsch erschienen (Suhrkamp).
Ist die Türkei denn noch ein laizistischer Staat?
Ehrlich gesagt, entfernt sich die Türkei immer mehr von Laizismus. Ich stand im Laufe meines Lebens in der Türkei schon mehrmals wegen meiner Bücher vor Gericht – fünf Mal, um genau zu sein. Aber eine solche Anklage hätte es vor zehn Jahren so nicht gegeben. Und wenn Ministerpräsident Erdogan tönt, er wolle eine religiöse Jugend heranziehen, wie er es kürzlich getan hat, dann sägt auch er an der Trennung von Staat und Religion.
Gefährlicher, als einen Roman über Mohammed zu schreiben, ist es in der Türkei aber noch immer, den Staatsgründer Atatürk zu kritisieren, oder?
Das stimmt, auch Atatürk hat man dort in den Rang eines Heiligen erhoben. Der Journalist Can Dündar zum Beispiel hat viel Kritik geerntet, als er eine Dokumentation über Atatürk drehte: Man warf ihm vor, er habe ihn als Alkoholiker und Menschen mit einer schwachen Persönlichkeit gezeigt. Dabei ist Atatürk eine Person der Zeitgeschichte: Er sollte nicht tabu sein.
Wie religiös sind Sie aufgewachsen?
Ich hatte eine religiös geprägte Kindheit. Meine Eltern waren beide Lehrer. Aber weil ich sehr früh meinen Vater verlor, haben mich meine Großeltern aufgezogen. Beide waren sehr religiöse Menschen – aber sie haben ihre Religiösität niemals ausgestellt, wie das heutzutage oft geschieht. Als Kind war ich wie verzaubert, wenn meine Großmutter den Koran rezitierte – ich hörte ihre Stimme, ohne die Worte zu verstehen, und sprach die Gebete nach, ohne deren Bedeutung zu kennen. Später, als ich den Inhalt der Gebete verstand, verschwand der Zauber. Auch davon erzähle ich in meinem Roman. Mein Großvater war Anwalt und ein modern denkender Mensch. Er hat seine drei Töchter zum Studieren an die Universität nach Istanbul geschickt. Und weder er noch meine Großmutter haben je Druck auf meine Mutter ausgeübt, auch zu beten. Leider habe ich auch ihn nicht lange erlebt – er starb, als ich 12 war.
Ihre Großeltern standen also bei Ihrer Geschichte Pate?
Ja, die Figur des Haci Rahmi Ram ist meinem Großvater nachempfunden. Im Ersten Weltkrieg hat er zuerst auf den Dardanellen gekämpft, später war er an der Verteidigung der heiligen Stadt Medina beteiligt. Die Frage, die er sich dabei stellte, hat mich zu meinem Roman inspiriert: Warum bin ich hier und kämpfe gegen meine Glaubensbrüder? Die Arabische Halbinsel gehörte damals zum Osmanischen Reich. Mein Großvater war also in der merkwürdigen Situation, die Stadt des Propheten gegen dessen Volk verteidigen zu müssen – gegen die arabischen Stämme, die sich gegen die osmanische Herrschaft auflehnten. In Medina wurde er von den Engländern gefangen genommen.
Ist „Allahs Töchter“ ein autobiografischer Roman?
Bis zu einem gewissen Grad ja. Aber die Hauptfigur ist der Prophet Mohammed. Auch sein Leben vor der Offenbarung und die drei Göttinnen, die bis dahin von seinem Stamm angebetet wurden, kommen darin vor. Ich habe diesen drei Göttinen eine Stimme gegeben – eine von ihnen ist beispielsweise heimlich in Mohammed verliebt. Auch das hat mir Kritik eingebracht. Aber „Allahs Töchter“ ist kein theologisches Buch und keine Biografie über den Propheten, sondern eine Roman-Fantasie.
Für die Türkei ist das durchaus etwas Neues, oder nicht?
Das Thema Religion, des Heiligen, ist immer ein rutschiges Terrain. Aber es war nicht meine Absicht, die Religion zu kritisieren. Einige Kritiker haben den Roman auch dafür gelobt, dass er den Einfluss des islamischen Glaubens, seine Rezeption und seine Wirkung ganz gut darstellen würde. Und ich glaube, dass er auch einige religiöse Leser gefunden haben muss, sonst hätte er sich nicht so gut verkauft. Man muss dazu sagen, das „Allahs Töchter“ nach „Der Eroberer“ mein bisher bestverkauftes Buch in der Türkei war.
Hat es mit Ihrem Alter zu tun, dass Sie sich mit dem Thema Religion beschäftigen?
Ja, bestimmt. Ich habe das Thema zwar immer mal wieder in meinen Erzählungen gestreift. Aber erst jetzt, mit über fünfzig Jahren – also nach mehr als der Hälfte meines Lebens –, konnte ich diesen Roman schreiben.
An welches Publikum wendet sich Ihr Roman?
Es ist kein Buch, das sich an eine bestimmte Leserschaft richtet. Es reflektiert ein Stück meiner Kindheit: Die islamische Geschichte, das Leben von Mohammed, der Zauber des gesprochenen Wortes, die Legenden, Erzählungen – das ist ein Teil meines Lebens, deshalb habe ich darüber geschrieben. Nicht, weil der Islam oder die Kritik an dieser Religion gerade in Mode ist. Solche Motive wurden mir in der Türkei allerdings unterstellt.
Sie leben schon lange in Paris. Wie ist Ihr Verhältnis zur Türkei?
Meine Verbindung zur Türkei ist nie abgebrochen. Das liegt vor allem an der Sprache. Denn ein Schriftsteller lebt nicht in einem Land oder einer Stadt, sondern in einer Sprache. Und obwohl ich seit fast 40 Jahren in Frankreich lebe, schreibe ich auf Türkisch – auf Französisch verfasse ich lediglich wissenschaftliche Texte. Paris hat mir aber auch sehr viel gegeben, die französische Literatur, andere Kulturen, das alles macht einen Autor reicher. Aber es gibt das Exil in mir. Wäre ich nicht als junger Mann aus Istanbul weggegangen, hätte diese Stadt in meinen Romanen wohl nie so eine wichtige Rolle gespielt.
Was hat Sie denn ursprünglich nach Frankreich verschlagen?
Als ich 20 war, wollte ich in der Türkei eine Revolution anzetteln. 1971 hatte ich einen Text über Lenin und Marx geschrieben und wurde dafür angeklagt. Um nicht im Gefängnis zu landen, musste ich die Türkei verlassen. Heute verbringe ich aber oft lange Phasen in der Türkei, in Istanbul.
Das türkisch-französische Verhältnis ist auf einem historischen Tiefstand, seit Sarkozy die Leugnung des Genozids an den Armeniern im Osmanischen Reich unter Strafe stellen wollte. Was sagen Sie dazu?
Beide Seiten haben Fehler gemacht. Die Leugnung des Völkermordes unter Strafe zu stellen passt nicht zu einem Land wie Frankreich. Es in der Türkei ja auch kein Tabu mehr, von einem Völkermord an den Armeniern zu sprechen. Warum soll dann das Gegenteil in Frankreich unter Strafe stehen? Sarkozys Hauruck-Aktion diente nur Wahlkampfzwecken. Aber auch die Reaktion der Türkei war übertrieben. Ausgerechnet Recep Tayyip Erdogan, dessen Ministerium mich ins Gefängnis bringen wollte, spielt sich zum Verteidiger der Gedankenfreiheit auf? Das ist lustig.
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