„Schriften zur Kunst“ von Félix Guattari: Beim Anblick der Synapsen-Maschinen
Beim Besuch einer Ausstellung und beim Anblick eines Bildes zum temporären Cyborg werden: Félix Guattaris „Schriften zur Kunst“.
„Keine Großtuerei, kein Narzissmus“: Worte, die Félix Guattari in einem Text über den japanischen Maler Toshimitsu Imai schreibt, um zu erfassen, mit welcher Geste Imai von der Leinwand Besitz ergreift. Worte aber auch, die Guattaris eigenen Zu- und Umgang mit der Kunst sehr gut beschreiben.
Denn wenn es einen Moment in der Betrachtung eines Bildes oder einer Ausstellung gibt, der überhaupt von Bedeutung ist, dann ist es jener Moment, in dem das Werk und der Betrachter zu einem temporären Cyborg werden. Zu einem Cyborg, der im Betrachter etwas hinterlässt, wenn das Bild oder die Ausstellung wieder weg ist und aus dem Cyborg wieder der Angestellte des allgemeinen Betriebs geworden ist.
Platt könnte man diese Art der Kunstauseinandersetzung als existenziell bezeichnen, was sie für Guattari auch ist, aber eben nicht nur. Man würde mit dem gerade in den Subkulturen der 1980er Jahren überstrapazierten Begriff des Existenziellen die technischen Komponenten von Guattaris Ästhetik genauso verfehlen wie Guattaris Beharren auf der Tatsache, dass Kunst nur dann Sinn hat, wenn sie es schafft, die Wahrnehmung zu verändern oder zu verschieben.
Guattaris Blick auf die Kunst ist der einer Wirkungsregistriermaschine. Kunstwerke sind für ihn auch „Synapsen-Maschinen“, wie er in einem Text über den Maler Balthus schreibt. Er könne sich vorstellen, heißt es darin weiter, dass bestimmte Geister, die sich in der rauen Schule des Neopositivismus und des logischen Empirismus verhärtet hätten, es nicht ohne Widerwillen akzeptieren werden, dass man, wie er (Guattari) es getan habe, auf Maschinen, die als abstrakt, deterritorialisiert und körperlos bezeichnet werden, zurückgreife, um eine existenzielle Funktion zu unterstützen. Existenzielle Erfahrungen ohne Maschinen? Gibt es gar nicht mehr.
Die Natur hat den Naturzustand verlassen
Bei Guattari verhält es sich eben anders als bei den Surrealisten oder den gerade gefeierten Dadaisten, für die es noch ein Auge oder Ohr im Urzustand gab. Genauso wie Sprechen und Schreiben heute „ein symbiotisches Leben“ mit dem Computer führen, sind auch Sehen, Hören und Fühlen nicht mehr von allen möglichen technischen Medien zu trennen.
Eine Tatsache, die bei ihm auch für die Natur gilt – auch die Natur hat den Naturzustand schon lange verlassen. Der Witz an der Sache ist, das Guattari die forcierte Maschinensicht in einem Text einführt, der „Cracks in the Street“ heißt und von drei Gemälden von Balthus ausgeht, die dieser in den 1920er und 30er Jahren ganz konventionell gemalt hat.
Félix Guattari: „Schriften zur Kunst“. Übers. v. R. Voullié. Merve 2016, 240 S., 22 Euro.
Erstaunlich an Guattaris Texten zur Kunst, die jetzt erstmals versammelt bei Merve erschienen, sind mehrere Aspekte. Zum einen lesen sie sich wie eine Einführung in die aktuelle Post-Internet-Kunst, und zum anderen orientieren sie sich in keiner Weise an den ausgeschriebenen Linien von Kunstkritik und Kunstgeschichte. Es ist Guattari offensichtlich völlig egal, ob die zwölf Künstler – von Balthus über den New Yorker Filmemacher und Maler David Wojnarowicz bis zu dem griechischen Bildhauer Takis – gerade von Kritik und Markt angenommen worden sind oder nicht.
Der Markt wie die herrschende Kritik interessieren ihn nur in den bestimmten Momenten, in denen sie auf seine Künstler reagieren, und zwar unter dem einen impliziten Aspekt, dass beide – Markt wie handelsübliche Kritik – zwar nicht die Hellsten sind, aber offentlich auch nicht dazu da, Qualität zu verhindern. Die Frage nach der widerständigen Qualität muss also anders beantwortet werden als über gängige Marktkritik.
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