Schriften zu Zeitschriften: Rede aus der Weite
■ Mustergültige Verteidigung der Poesie: Die Zeitschrift „Zwischen den Zeilen“
In seiner berühmten Schrift „Defence of poetry“ erklärte der romantische Poet Percy Bysshe Shelley die Dichter zu den heimlichen Gesetzgebern der Welt. So viel Vertrauen in die weltschaffende Kraft der Dichtung und so viel Mut zur pathetischen Selbsterhöhung vermögen Lyriker am Ende unseres Jahrtausends nicht mehr aufzubringen. Die Frage nach Amt und Aufgabe des Dichters empfinden sie als peinliche Zumutung und neigen dazu, die Aussage zu verweigern. So erklärte auch der amerikanische Lyriker Charles Simic in einem Beitrag für die „Akzente“ (Heft 1/1998) den Versuch einer zeitgemäßen „Verteidigung der Poesie“ für „etwas wirklich Blödsinniges“. Der Dichter, der nach antikem Urbild die Lyra schlägt, der tut es nach Simics spöttischer Behauptung vor allem deshalb, um sich die Langeweile zu vertreiben.
Allen Zweiflern zum Trotz gibt es auch heute noch einen Ort, an dem die von Shelley erträumte „Verteidigung der Poesie“ mustergültig ins Werk gesetzt wird: Es ist die Lyrikzeitschrift „Zwischen den Zeilen“, die der Schweizer Autor und Herausgeber Urs Engeler 1992 im Alleingang gegründet und mittlerweile zum inspiriertesten und kompetentesten Lyrikperiodikum im deutschsprachigen Raum entwickelt hat. Im Gegensatz zum kommerziell erfolgreicheren Konkurrenzorgan „Das Gedicht“, das nach dem „Manus manum lavat“-Prinzip der brüderlichkeitserheischenden Gefälligkeit nach allen Seiten arbeitet, folgt Engeler allein seiner ästhetischen Neugier. Engelers literarischer Eigensinn verträgt kein Schielen nach prominenten Namen, kein ängstliches Starren auf eventuelle Sozialverträglichkeit des poetischen Materials. Was für ihn einzig zählt, ist das sorgsame Sondieren des lyrischen Feldes, die unentwegte Suche nach originären Stimmen der Poesie.
In mittlerweile elf Heften hat Engeler einen kleinen Atlas der avancierten Gegenwartsdichtung angelegt. Jedes Heft ist dabei als Dossier zur Poetik und lyrischen Praxis zeitgenössischer Dichtung konzipiert: Gedichte, poetologische Essays, lyriktheoretische Briefe und Tagebuchnotizen von sechs bis acht Autoren korrespondieren miteinander und vereinigen sich zu einem vielstimmigen Gespräch über Poesie. Von der Fundierung der Poesie in Religion und Liturgie, von der Hoffnung auf die „Gnade des Sprechens“ (Walter Thümler) bis zur skeptischen Relativierung des Dichtens sind alle denkbaren Positionen in schöner Widersprüchlichkeit vertreten.
Die beiden jüngsten Hefte, die Ausgaben Nummer 10 und 11, sind wuchtige Bände von jeweils über 250 Seiten. Heft 10 konfrontiert hierzulande wenig bekannte russische Dichter mit ihren deutschen Übersetzern, die selbst Lyriker sind. Elke Erb übersetzt zum Beispiel die junge Dichterin Natalja Beltschenko, um mit ihr anschließend über die Vorzüge der Genitivmetapher zu streiten; Felix Philipp Ingold überträgt den einst als Dissidenten inhaftierten Vadim Konzovoi. Das jüngste, noch druckfrische Heft 11 wirft erstmals einen Blick auf eine Portalfigur der klassischen Moderne: Das zentrale Dossier ist der amerikanischen Dichterin Emily Dickinson gewidmet, die von 1856 bis zu ihrem Tod 1886 in völliger Abgeschiedenheit von der Welt ein riesiges lyrisches Werk von über 1.700 Gedichten schuf, von denen zu ihren Lebzeiten gerade mal sieben veröffentlicht wurden. Ein erstmals auf deutsch publizierter Essay des Literaturhistorikers Archibald MacLeish zitiert eine Bemerkung Emily Dickinsons, die als Produktionsgesetz aller avancierten Poesie gelten kann. Demnach ist das Dichterische das, „was erstaunlichen Sinn destilliert / aus gewöhnlichen Bedeutungen“. Und diese Destillation erstaunlichen Sinns vollziehe sich eben nicht durch Geisterbeschwörung, sondern durch Wahrnehmung. Die Einzigartigkeit der Wahrnehmung des Dichters, seine besondere „Gewahrung der Welt“ – das sind die Elemente der Lyrik, die es zu „verteidigen“ gilt.
Dichtung hält diese Elemente immer in einem Schwebezustand, wie es Lioba Happel in ihrem Essay in Heft 11 formuliert: „Die Worte finden in ihren Atem-Bögen zueinander, sie fließen weg von den Inhalten, kreisen über dem ,Gemeinten‘ – so werden sie frei von der Sinn- Enge der Bedeutung.“ Daneben sind es vor allem die Gedichte des Schweizer Lyrikers Christoph Krause und des ungarischen Autors Endre Kukorelly, die den faszinierenden Prozeß semantischer Entgrenzung und Befreiung erfahrbar werden lassen. Auch in ihren Texten vollzieht sich das Wunder, das Marina Zwetajewa unübertrefflich prägnant beschrieben hat: „Der Dichter beginnt die Rede aus der Weite. Die Rede führt den Dichter in die Weite.“ Michael Braun
Zwischen den Zeilen, Heft 10 und 11. Urs Engeler, Editor, Giessliweg 71, CH-4057 Basel, 264 und 270 Seiten, je 30 DM
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