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Schriften zu ZeitschriftenWas ist der Staat?

■ Ein Philosophiejournal für den Tagesgebrauch: „Der blaue Reiter“

Ein 56jähriger Raumausstatter aus Stuttgart hält den Staat für einen „Haufen von Verbrechern“. Für Aurelius Augustinus, einen jahrhundertealten Kirchenvater aus Afrika, sind Staaten „große Räuberbanden“. Der Staat sei eine überholte „identitätsstiftende Selbstbeschreibung“, mit der „Politiker“ sich einreden, eine komplexe Gesellschaft steuern zu können, gibt sich Norbert Bolz postsouverän. Der Staat sei etwas, was wir „im vollen Sinn“ nicht einmal haben, schränkt Otto Pöggeler begriffskritisch ein.

Der blaue Reiter. Journal für Philosophie hat die Frage gestellt und Antworten eingesammelt. Daß dabei ein Raumausstatter genauso zu Wort kommt wie ein philosophischer Klassiker, ein Exphilosoph oder ein Altbundeskanzler, spricht für die Zeitschrift. Nicht nur durch ihre Gestaltung, durch ihre Übersetzungen lateinischer oder französischer Fachbegriffe und durch ihre Erläuterungen zur Schlüsselterminologie tritt Der blaue Reiter entschlossen aus dem Elfenbeinturm heraus, sondern auch durch die Auswahl der Themen und Autoren sowie die weitgehende Einhaltung einer verständlichen Stillage.

Wenn Philosophie über den Kreis derer hinaus, die ohnehin in sie verliebt sind, Aufmerksamkeit erlangen will, muß sie sich von der Lieblingsbeschäftigung mit sich selbst abwenden und Themen aufsuchen, die von generellem, ja aktuellem Interesse sind. Ausführungen zu Ästhetik, Ethik oder Rechtsphilosophie versprechen da mehr publizistischen Erfolg als selbstbezügliche Spekulationen über die Bedingungen allen Philosophierens.

Und so hat Der Blaue Reiter stets Themenhefte herausgegeben und das jüngste dem Mythos Staat gewidmet, jenen „Grundmustern“ also, die jenseits von Verfassungen und Gesellschaftsverträgen ein „Gemeinwesen“ mit „Identität“ und „Sinn“ versorgen wie etwa der legendäre Wilhelm Tell die Schweiz. Als Franz Marc und Wassily Kandinsky 1912 einen Aufruf verfaßten, ihren Kunst-Almanach Der blaue Reiter zu subskribieren, wollten sie nicht allein die Experten erreichen, sondern die „Ohren der Laien wecken“.

Das Unternehmen unseres Blauen Reiters folgt seinem Vorbild über den gefährlichen Grat des Journalismus zwischen Trivialität und Überforderung – denn manchem werden die Gründe Helmut Schmidts für die „Machtergreifung von Adolf Nazi 1933“ („Versailler Vertrag“ plus „Arbeitslosigkeit“) erheblich zu einfach sein.

Jedenfalls dürfen Iring Fetschers instruktiver Essay über die Geschichte der zwischen Optimismus und Pessimismus pendelnden Staatstheorie von Cicero über Hobbes und Rousseau bis Marx, Jörn Rüsens Beitrag über die Rolle des Holocaust bei der Herstellung kultureller Indentität der deutschen Generationen oder auch Ninou Frieles Erläuterungen zu den Grundlagen und Spielräumen der Verfassungsrechtsprechung als geglückte Gratwanderungen gelten. Mit solchen Ultravereinfachungen aber, die Einrichtungen von ministeriellen Ressorts etwa für „Umweltschutz und Frauenpolitik“ hätten die Staatsausgaben erhöht und so zu irrsinnigen Steuererhöhungen geführt, die allein dazu dienten, „all diese Programme und Ministerien zu bezahlen“, darf der Historiker Martin van Crefeld dagegen als abgestürzt gelten.

Angesichts seiner populistischen Einschätzung, „die bislang größten Leistungen des Staates [seien] Hiroshima und Auschwitz“, lernt man die Würdigung Carl Schmitts, dessen kritisches Porträt der Jurist Theo Rasehorn zeichnet, schätzen, daß nämlich dem „klassischen europäischen Staat etwas ganz Unwahrscheinliches“ gelungen sei: „in seinem Innern Frieden zu schaffen und die Feindschaft als Rechtsbegriff auszuschließen“.

„Der Staat ist wesentlich ein territorialer Monopolist in Gewalt“, meint Prof. Dr. Gerhard Radnitzky. Die Kernfunktion des Staates scheint also in der Monopolisierung der Gewalt zu bestehen, die dafür sorgt, daß außerhalb der Staatsorgane niemand Gewalt ausübt und der Krieg aller gegen alle unterbleibt. Ein so verstandener Staat kann allerdings die Gestalt einer Diktatur oder einer Demokratie, einer Monarchie oder eines Gottesstaates haben, solange nur die öffentliche Ordnung hergestellt und rechtsförmig gesichert wird.

Im Blauen Reiter fehlt es nicht an Skepsis gegen solche formalen Definitionen, die den Staat auf einen Machtmechanismus zum „Schutz für Leib, Leben und Besitz“ (Siegfried Reusch) reduzieren und von den moralischen und politischen Werten der Menschen abkoppeln. Zum Betrieb geworden, der technokratisch seine Bestände verwaltet, gierig seine Grenzen ausdehnt, nichts den Privatleuten überlassen und alles selbst regeln will, mutiert der Staat zum „Ungeheuer“, zum „Leviathan“, der „seine Kinder frißt“. Selbst hochfunktionale und fürsorgliche „Staatsmaschinen“ werden dann „nicht länger für legitim empfunden“. Dann wird unter dem Banner des „Kommunitarismus“ nach einem „Gemeinwesen“ verlangt, das „auf die Tugenden und Werthaltungen seiner Glieder setzt“ (Barbara Stollberg-Rilinger).

Was ist der Staat? Eine Assoziation von Menschen, die vereint ihre gemeinsamen Rechts- und Wertvorstellungen verwirklichen und schützen? Oder ein repressives Gemeinwesen, das die unterschiedlichen Rechts- und Wertvorstellungen ihrer zerstörerischen Mitglieder mit Macht und Gewalt unter einem Hut hält? Die Frage bleibt offen, aber man weiß nun, wie worüber zu streiten ist. Niels Werber

„Der blaue Reiter. Journal für Philosophie“, Nr.7, 1998, Omega Verlag Stuttgart, 24,80 DM

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