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Schriften zu ZeitschriftenDie Nacht fährt auf dem Fahrrad vorbei

■ Ein Sonderheft des „Wiecker Boten“ über den späten Surrealisten Richard Anders

„Ohne mich schrumpfte ich zu wahrer Größe“: Geschrieben hat diesen Satz, der seine Widerhaken erst beim zweiten Lesen offenbart, der Dichter und Übersetzer Richard Anders. In „wahrer Größe“ freilich ist der inzwischen Siebzigjährige in der literarischen Öffentlichkeit bisher kaum wahrgenommen worden, trotz seiner mehr als ein Dutzend zählenden Buchveröffentlichungen, seiner zahlreichen essayistischen Arbeiten und Nachdichtungen.

Anders hat sich von Jugend an, seit den vierziger Jahren, dem Surrealismus verschrieben. Da die konkreten Lebensumstände des Heranwachsenden mit den Entfaltungsmöglichkeiten geistiger Neigungen im starken Kontrast standen, hat sich sein literarisches Interesse zur Besessenheit auswachsen können. So jedenfalls mag es jener Lehrer gesehen haben, der dem aus Ortelsburg in Ostpreußen stammenden Schüler 1948 ein Empfehlungsschreiben auf den Weg gab: „Der Junge ist begabt und besonders literarisch außerordentlich interessiert, auch belesen, hat sich selbst schon schriftstellerisch versucht und bereits vor zwei Jahren beachtliche Fähigkeiten entwickelt. Später ist er dann ganz in das Fahrwasser der modernen Surrealisten gekommen, verschlingt alle nur irgend erreichbaren modernen Schriftsteller und kam in einen Zustand, der ihn zu jeder sachlichen soliden Arbeit unfähig machte.“

Nachlesen kann man dieses Zeugnis im jüngsten Heft der Literaturzeitschrift Wiecker Bote, die dem Werk des heute in Berlin lebenden Schriftstellers ein Sonderheft gewidmet hat. Eine Wahlverwandtschaft, wie sie vorkommt am Rand der literarischen Betriebsamkeit, der sich nicht selten als Mitte der Literatur erweist: Der Verfasser einer wenig publikumswirksamen surrealistischen Lyrik trifft auf ein Unternehmen mit hohem Anspruch und geringem Wirkungskreis.

Wiecker Bote! – so hieß 1913–14 eine expressionistische Zeitschrift, die der Lyriker, Publizist und spätere Anarchist Oskar Kanehl in der programmatischen Abgeschiedenheit des Fischerdorfes Wieck redigierte. Die Zeitschrift ging ein, nachdem Kanehl 1914 einberufen worden war. Ihre Wiederbegründung im Jahr 1995 verdankt sich dem Engagement literarisch besessener Selbstausbeuter aus dem nahe gelegenen Greifswald. Sieben Hefte in schlichter Ausstattung sind seither erschienen. Sie enthalten neben kurzer Prosa und Lyrik auch literaturgeschichtliche Fundstücke und Miszellen. Veröffentlicht haben hier neben weniger namhaften Autoren die Lyrikerin Amanda Aizpuriete, Kurt Drawert, Manfred Peter Hein, Wolfgang Koeppen, Gert Neumann, Oskar Pastior und Tobias Wangermann.

Im 66 Seiten starken Sonderheft zu Richard Anders sind zum größten Teil bisher unveröffentlichte Texte des Dichters abgedruckt, beginnend mit Auszügen aus einem autobiographischen Roman, über Gedichte und poetologische Selbstauskünfte, bis hin zu zwei Rezensionen und der Beschreibung eines Bildes von Max Ernst. Nachzulesen ist auch die Einführung zu einer Veranstaltung zum 70. Geburtstag von Anders, in der Andreas Koziol das Werk des Jubilars würdigt und es in Beziehung setzt zur Arbeit der Lyriker Oskar Pastior und Gellu Naum, die sich in der Berliner LiteraturWerkstatt als Gratulanten eingefunden hatten. Der Rumäne Naum ist der letzte Veteran der Generation von literarischen Surrealisten um Phillipe Soupault und André Breton. Auch Richard Anders hat Breton noch kennengelernt, als er in den sechziger Jahren als „Sympathisant“ an den Sitzungen der Surrealisten teilnahm.

Nicht fehlen durften in dieser sorgfältig zusammengestellten Auswahl einige neue Geschichten von Zeck – ein surrealistischer Nachfahre Palmströms, der zum festen Personal in Anders' Geschichten gehört. Niemand weiß, was bei „sachlicher und solider Arbeit“ im Sinne seines wohlwollenden Lehrers aus Anders geworden wäre, was „im Fahrwasser des modernen Surrealismus“ aus ihm geworden ist, läßt sich jedoch schwarz auf weiß nachlesen, etwa im Wiecker Boten: „Die Nacht fährt auf einem Fahrrad vorbei / und erhellt mit einem Scheinwerfer den Mond / der mir tags als blinder Stein / in die Tasche kullert / weiß wie eine Schlaftablette / oder das Medaillon / einer verlorenen Geliebten.“ Peter Walther

Die Zeitschrift erscheint dreimal jährlich als Mehrfachheft, Preis je nach Heftumfang zwischen 4–10 DM, Einzelbezug und Abonnement über: Wiecker Bote. Literarische Hefte zur Zeit, PF 3128, 17461 Greifswald. Weitere Informationen: www.uni-greifswald.de/dt_phil/ Wiecker-Bote

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