Schreiben lernen in der Grundschule: Gutachter, Lobbyisten und Autoren
Der Grundschulverband drückt zum zweiten Mal eine neue Anfangsschrift in die Schulen. Die Kinder sollen schneller ihre persönliche Handschrift entwickeln.
BERLIN taz | Benjamin, Zweitklässler, will nicht mehr in die Schule gehen. "Meine Lehrerin ist gemein. Ich hab im Diktat ein Wort nicht so geschrieben, wie wir es sollen: alle Buchstaben in Schreibschrift. Mir ist ein Druckbuchstabe reingerutscht. Eigentlich hat nur ein kleiner Strich gefehlt. Und dafür hat sie mir einen Fehler angestrichen." Der Zettel mit dieser Notiz ist fast fünfzehn Jahre alt. Ist sie heute noch relevant?
So pingelige Korrekturen sind kaum mehr vorstellbar. Und wer meint, die Kinder müssten nach der Druckschrift die Verbindungen einer Ausgangsschreibschrift trainieren, bevor sie ihre persönliche Handschrift entwickeln, dem widerspricht der Grundschulverband. Das sei ein Umweg, heißt es autoritativ. Begründung: "Es gibt keinen Beleg in der Forschung dafür, dass ein solcher Zwischenschritt in irgendeiner Weise sinnvoll ist." So argumentiert Erika Brinkmann, Professorin für Deutschdidaktik und zugleich Regionalvorstand im Grundschulverband.
Kaum Forschung
Es gibt freilich gar keine aktuelle Forschung zur Klärung der Frage, ob eine Ausbildung des Handschreibens mit einer Ausgangsschreibschrift sinnvoll ist oder nicht. Wie kann es da Belege geben! Darum wähnt sich die Didaktikerin Brinkmann nun berufen, in freihändiger Wissenschaftlichkeit zu befinden: Viele der dabei "antrainierten Bewegungsabläufe müssen sich die Kinder dann später bei der Weiterentwicklung zu einer flüssig zu schreibenden persönlichen Handschrift wieder abgewöhnen".
Die Kinder könnten ohne Zeitverzug aus einer Druckschrift ihre persönliche Handschrift ableiten. Brinkmann wirbt für die Grundschrift, die der Grundschulverband als neue, fortschrittliche, einzige Ausgangsschrift präsentiert.
Das passt zu dem, was sie in Lehre und Fortbildung als Konzept für offenen Unterricht im ersten Schuljahr vertritt. Dafür ist sie seit Jahren mit Material für eine Lernlandschaft bei einem großen Verlag auf dem Markt. Länger schon zusammen mit Hans Brügelmann, Professor für Grundschulpädagogik, mit einer anderen Ausstattung.
Beide dominieren als Fachreferenten unterwegs und im Grundschulverband eine mittlerweile ideologisch erstarrte Auffassung von modernem Grundschulunterricht, speziell zum Schriftspracherwerb. Man weiß nie: Sind sie gerade Gutachter, Herausgeber oder Lehrplaner? Treten sie als Lobbyisten, Professoren oder Autoren in eigener Sache auf. Sie interviewen sich gern auch gegenseitig in Fachorganen. Die Funktionen sind undurchschaubar hermetisch verquickt. Niemand nimmt Anstoß daran. Reputation und Definitionsmacht wachsen unaufhaltsam.
Mit der Grundschrift inszeniert der Grundschulverband abermals eine Reform des Schreibunterrichts, nachdem eine frühere, die Einführung der Vereinfachten Ausgangsschrift, in dem Schriftenwirrwarr stecken geblieben ist, das sie verursacht hat. Die beiden Professoren sind dabei, aber erst jetzt treten sie nach außen dafür auf. Mit multipler Autorität sozusagen.
Wo entspringt die Grundschrift? In der Zeitschrift des GSV fragt 2005 Horst Bartnitzky, Bundesvorstand des Verbands: "Welche Schreibschrift passt am besten zum Grundschulunterricht heute?" Er berichtet von einem gescheiterten Versuch, 2003 in Nordrhein-Westfalen per Lehrplan die Druckschrift als einzige Ausgangsschrift zu etablieren.
Methode Schulverband
War er als Mitglied der Schulverwaltung daran beteiligt? Jetzt präsentiert er analoge "Empfehlungen zu Schrift und Schreiben in der Grundschule", von ihm formuliert, der Delegiertenversammlung vorgelegt, einstimmig verabschiedet! Danach werden LehrerInnen gesucht, die schon "lange Zeit die Druckschrift als Schreibschrift nutzen". Sie sollen sich mit ihren Erfahrungen beim GSV melden.
Denn: "Wir wollen mit Ihnen in Kontakt kommen, Erfahrungen untereinander austauschen und nach Wegen eines kindgemäßen Schreibunterrichts suchen." Erfahrungen zur Begründung der bereits verabschiedeten Empfehlungen sollen also erst noch gesammelt werden! Die Ausbeute wird kläglich sein.
Aber dann gelingt es 2009/10, die "Empfehlungen" mit dem Projekt "Grundschrift" voranzutreiben. Die Planungsgruppe ist ausgelesen, mögliche Kritik ausgeschlossen. Im Handumdrehen wird die "Grundschrift" als fortschrittlich und wissenschaftlich begründet präsentiert. Genau besehen ist sie als Schreibschrift eine Vereinfachung der Vereinfachten Ausgangsschrift, eine Schrift für die Maschine, nicht für die Kinderhand. Aber das bleibt verborgen unter allerlei Verheißungen.
Die Presse greift das Thema Grundschrift auf, Lernbeschleunigung zieht. Es finden sich LehrerInnen, die das Konzept ausprobieren. Im April ist Erfahrungsaustausch angesagt. Nur Insider zugelassen! Absehbar, dass nichts mehr kippen kann. Für den Sommer bereitet Horst Bartnitzky mit Ulrich Hecker für den GSV einen Mitgliederband vor, der soll die bunt gedruckten Arbeitskarten der Grundschrift überall hintragen. Finanziert aus Mitgliedsbeiträgen. Zu wessen Nutzen? Ist das eine Art Probepackung, dem ein Marktprodukt folgen soll?
Geduldiger Schreibunterricht schult Formauffassung, Feinmotorik, Koordination von Auge und Hand und die Sammlung der Aufmerksamkeit. Das ist nur angeleitet möglich! Zwar sind die umfangreichen, gründlichen Untersuchungen zum Schreibenlernen in diesem Sinne älteren Datums, dem aufmerksamen Beobachten und Nachdenken verpflichtet, nicht moderner Empiristik. Aber wenn man versteht, warum jedem Kind, besonders aber ungeordneten, fahrigen, friedlosen Kindern ein Unterricht in Instrumentenspiel, Rhythmik, Tanz, Chorgesang oder Meditation zu wünschen ist, kann man ahnen, welches Potenzial im geordneten, achtsamen Schreiben bereitliegt.
Für geplagte Kinder, für unruhige Klassen, für überlastete LehrerInnen. Vom Gewinn einer handwerklich sauberen, funktionstüchtigen, flüssigen Schrift einmal abgesehen. Und man braucht dafür nicht viel mehr als Tafel und Kreide, für die Kinder einfache Hefte und gute Bleistifte. Dazu LehrerInnen, die sich auskennen mit lernenden Kindern und mit den Schriften, die sie brauchen. So kleinlich wie die Lehrerin von Benjamin werden sie natürlich nicht sein.
Ute Andresen ist vielfach erfahrene Schreiblehrerin für Grundschulkinder
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag