: Schmeckt nach Findorff/Lohmannstraße
■ Menschenhamster im Time Tunnel oder die Kunst, eine Rauhfasertapete richtig zu kleben: Das Bremer Theater führt „Mondkind“, das zweite Schauspiel der Bremer Autorin Vera Kissel, im Brauhauskeller urauf
Man nehme ein paar so genannte einfache Menschen, lege ihnen einige Dialoge in den Mund, durchwebe diese mit allerlei Redensarten und färbe jene durch Weglassen einiger Vokale mit etwas Mundart. So werden aus Leuten Leut', wird aus heute heut', und schon entsteht ein Stück Gegenwartsdramatik. So einfach ist das. Na ja. Ganz so einfach ist das auch wieder nicht.
Einfach, also sogar einfach geil ist etwas anderes. Nämlich die Fügung, dass eine schon mehrfach auch auswärts ausgezeichnete und beachtete Bremer Autorin namens Vera Kissel und das hiesige Stadttheater zusammengefunden haben. Das muss nicht so sein, aber kann durchaus auch mal so sein, denn von Nabelschau oder gar Filz kann in diesem Fall gar keine Rede sein. Kurzum: Das Bremer Theater hat Vera Kissels zweites, im letzten Jahr beim Heidelberger Stückemarkt schon prämiertes Schauspiel „Mondkind“ erstmals eingerichtet. Also uraufgeführt. Tra ra.
Manche sehen Time Tunnel, Andere glotzen in die Röhre und Dritte mögen sich an die schwierigste Stelle damals im Irrgarten auf dem Jahrmarkt erinnert fühlen: Ein kreisrunder Schlund aus hölzernen Laufrädern verengt den an sich schon schlauchlangen Brauhauskeller auf die Größe – und nicht auf den Geruch – eines städtischen Abwasserkanals. Kathrin Frosch hat sich neben den Retro-mäßig-70er-Jahre-haften Kostümen auch diese Austattung ausgedacht. Und die passt schon zur Atmosphäre des Stückes. Das schmeckt nämlich nach – sagen wir – Findorff/Lohmannstraße, also einer sauberen, weitgehend baumfreien Nachbarschaft, in der streng darüber gewacht wird, dass niemand sein Fahrrad an den Gartenzaun kettet, und hinter den Fassaden gelegentlich doch mal jemand auf den Teppichboden scheißt.
Vera Kissels Figuren sind alle ein bisschen irre. Sie spielen zumindest eine Außenseiterrolle. Doch denkt man von den fünf AkteurInnen im Stück hoch auf geschätzte 500.000, dann wimmelt es in Veras Welt bestimmt von Außenseitern und Irren. Kissel präsentiert hier die altersdebile Rosa und ihre Pflegerin Ines sowie den wahren Irren Anton und seine Mutter Anka, die sich in den Handwerker und „Mann für alles“ Rudi verliebt. Warum nur Anton einen Vornamen mit fünf Buchstaben trägt, soll ein Geheimnis bleiben.
Das Quintett pflegt einen Umgang, der Extreme seltsam miteinander vereint. Einerseits sind die Dialoge durchaus spröde und das Verhalten rauh. Andererseits sind die Charaktere auch liebevoll gezeichnet und empfinden die Figuren Zuneigung zueinander.
In einer der schönsten Szenen führt der Handwerker Rudi mit Hingabe und durchaus auch zum Mitschreiben lehrreich in die Kunst des Rauhfaser-Klebens ein. Dass er zugleich wie Ernst Jünger ein Faible für Insekten hat, macht ihn dumpf geheimnisvoll. Ohnehin schwingt in diesen Charakteren latent Krieg mit. Die 43-jährige Anka ist die Tochter eines Bauern und – so liegt nahe – einer polnischen Zwangsarbeiterin. Ihr Sohn, das „Mondkind“ Anton, ist vermutlich zugleich auch der Sohn ihres eigenen Vaters. Wie Verschworene hüten sie alle ihre Geheimnisse. Nur schwer finden Vera Kissels Außenseiter zueinander. Und obwohl „Mondkind“ als eher tragische als komische Romanze zwischen Anka und Rudi daherkommt, scheitern sie am Ende doch an sich selbst.
Mit zaghafter Neigung zur Metaphorik setzt die junge Regisseurin Martina Wrobel das Schauspiel in Szene. Die Alte Rosa vergisst da bei einem Auftritt nicht einfach, dass sie sehen kann, sondern ihre Pflegerin bindet ihr ein Tuch um den Kopf. Das verstehe, wer will. Hübsch dagegen ist, wie Rudi durch ein paar Kreidestriche diesen Tunnel in das Insektarium verwandelt, in dem er sich mit Anka zum ersten Rendezvous trifft.
Trotz des einen oder anderen guten Regieeinfalls hinterlässt doch mehr die Architektur als die Inszenierung den nachhaltigen Eindruck. Denn durch das Bühnenbild aus diesen Laufrädern und einer Filmprojektion am Ende des Tunnels wird die Sicht auf das Stück auf einen ziemlich statisch wirkenden Aspekt verengt: Es ist die klaustrophobische und zugleich bodenlose Situation im Dasein dieser Menschenhamster, die von Henriette Cejpek (Anka), Matthias Kleinert (Anton), Eva Gillhofer (Rosa) und Tanja Schupnek (Ines) redlich bis gut und von Peter Pagel als Rudi in Idealbesetzung gespielt werden. Ich müsst' aber irren, wenn da im „Mondkind“ nicht noch mehr drin wär', was rauszuholen sein könnt'. Man müsst' die Leut' dafür wohl aus diesem Tunnel befreien.
Christoph Köster
Weitere Aufführungstermine: 18. und 25. Mai sowie 1. und 29. Juni um 20.30 Uhr im Brauhauskeller. Karten unter Tel. 365 33 33
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen