: Schlauer Schädel von außen
■ Jürgen Flimm inszeniert „Harrys Kopf“wie Tankred Dorsts Vorlage: kopfig, aber ohne Harry
Laut ist die Welt. Da kann ein empfindsamer Dichter schon rechte Kopfschmerzen bekommen. Draußen tobt die Revolution, im Schädel explodieren die Gedanken. Einer macht ihm besonders zu schaffen: Was ist, wenn es nur Spukgeschichten sind, die den Schädel des toten Dichters als Tummelplatz gebrauchen? „Gestorben bin ich“, behauptet Heine gleich zu Beginn von Tankred Dorsts jüngstem Drama Harrys Kopf. Das ist betrüblich, einerseits, wenn man seine eigene Leiche so miterlebt, andererseits bietet es aber auch Vorteile: „Heine ist der bedeutendste deutsche Dichter seit Goethe“, diktiert er seinen Nekrolog persönlich in die Feder des angereisten Journalisten, „schade, daß er tot ist.“
Pünktlich zu Heinrich Heines 200. Geburtstag hat Dorst ein in den 70er Jahren begonnenes Stück über den 1856 in Paris verstorbenen Lyriker und Journalisten fertiggestellt, dessen paradoxe resignativ-revoltierende Haltung gegenüber der politischen Wirklichkeit in präzise Ironie mündete. Heine, der bis zu seiner Konvertierung vom Judentum zum Protestantismus Harry hieß, läßt von seiner „Matratzengruft“aus Szenen seines Lebens Revue passieren: die Hochzeit mit Mathilde, Dispute mit Börne und Balzac, die Pariser Julirevolution, die Hamburger „Judenkrawalle“, seine späte Liebe Mouche.
Das geschieht nicht chronologisch, sondern sprung- und in Jürgen Flimms Inszenierung am Thalia Theater bildhaft. In Annette Murschetz' schönem schäbigen Bühnenraum, der Pariser Salon und VEB-Umkleidekabine vereint, übersetzt die Regie den Text eins zu eins: Heine-Köpfe wachsen aus Blumentöpfen, zu jüdischen Klageliedern flackert ein Feuer, der von Heine diagnostizierte Riß durch die Welt läßt die Bühne auseinanderbrechen. Dazu gibt es eine Menge Geräusche und Rauch. Was er vernebelt, ist folgendes: Was in Harrys Kopf eigentlich vorgeht.
Hans Christian Rudolphs Heine ist nicht Satiriker, sondern ein verschlossener, lebensmüder Zyniker. Das beschworene „Wetterleuchten seines Geistes“blitzt nicht, da hilft es auch nicht, den Dichter auf einer Lampe in den Bühnenhimmel entschweben zu lassen. Mehr als problematisch auch das Frauenbild: Mathilde ist eine Papageien beweinende, vulgäre Heulsuse, deutsche Weiber sagen „Huch“, französische tanzen Ringelreihen. Beim Zitieren von Gedichten wird in die Ferne gestarrt. Ein kopfiger Text in ausgeklügelter Inszenierung, aber ohne Harry. Der blickt bestimmt von oben auf das Hamburger Theater und brüllt seine Verse von 1829: „O, daß ich große Laster säh,/ Verbrechen, blutig, kolossal,/ Nur diese satte Tugend nicht,/ Und zahlungsfähige Moral!“
Christiane Kühl
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