■ Schlagloch: Dritte Stunde: Wahrnehmungskunde Von Christiane Grefe
„Wie wir unsere jungen Leute auf das Informationszeitalter vorbereiten, darüber lohnt sich zu streiten...“ Roman Herzog
Die amerikanischen Universitäten, wir lesen es täglich, liegen in allem vorn. Also rechnete ich beim Besuch der Ivy League-Brown University im vergangenen Oktober damit, auf lauter hightech-routinierte pure Spezialisten zu stoßen. Doch die Elite schaltet, allen Medienklischees zum Trotz, keineswegs vor allem elektronisch quer. Studenten in Providence werden vielmehr von ihren Professoren zu ganz anderen Vernetzungen ermuntert. Sie sollen sich viel Zeit nehmen für Wanderungen zwischen den Fächern: Der Physiker Mike hört Ägyptologie, die Ingenieurin Sue besucht Musikseminare, Lucia macht neben Soziologie auch in Biotechnologie. Je vielfältiger, desto besser, das relativiert und bereichert zugleich fruchtbar die eigene Perspektive.
Man empfiehlt den Studenten sogar, dabei eher mal ein Semester zu „verlieren“ oder eine schlechtere Note zu riskieren, als ihren Horizont zu beschränken. Obligatory sind Orchester und/oder Sport. Zudem wird erwartet, daß sich jeder in mindestens einer Organisation auf dem Campus und darüber hinaus auch noch in kommunalen Einrichtungen sozial engagiert. Brave Kids aus der oberen Mittelschicht sind dann, etwa beim Sprachunterricht für Einwanderer, erstmals mit Leuten konfrontiert, die nicht mal mehr Lebensmittelmarken beziehen.
Es mag durchaus sein, daß die lachsfarbenen Herbstblätterflammen im neuenglischen indian summer meine Wahrnehmung dieser Rundumerziehung des Intellekts, der sozialen Einfühlung und des Körpers allzu euphorisch eingefärbt haben. Trotzdem fiel mir das Rhode-Island-Modell des Lernens bei der Lektüre von Roman Herzogs ebenfalls flammender Rede auf dem Berliner Bildungsforum wieder ein. Man wolle, so heißt es in Providence, „Bürger, nicht Karrieristen“ erziehen – beim Bundespräsidenten kommt ein solches Ziel nicht vor.
Zumindest unterschwellig war „Ruck durchs Land II“ vielmehr von der Klage durchzogen, es mangele auf allen Bildungsebenen vor allem an marktgängiger Windschnittigkeit für das aufdämmernde Medien- und Informationszeitalter: „Ihr seid nicht mehr gut und rasch genug!“ Und da klang mir eben der damalige Präsident jener Brown University wieder im Ohr, wo die mediale Vernetzung schon viel mehr zum Alltag gehört: „Der Nutzen der Kommunikationstechnologien wird doch total übertrieben“, sagt Vartan Gregorian ernüchtert. Ebenso wichtig wie ihr Einsatz sei die Widerständigkeit gegen sie: „Nicht technologisch, sondern überhaupt miteinander kommunizieren zu lernen – das ist die Herausforderung.“ Und das Bildungsziel heiße nicht Informationen sammeln, sondern Denken: „Wer denken lernt, kann alles denken.“
Denken aber ist nur ein anderes Wort für das bewußte Erkennen, Einordnen und kreative Zusammenschalten von Wahrnehmungen. Und die werden in der Datengesellschaft gleichzeitig dramatisch ausgeweitet wie beengt: Die Summe aus Printmedien, Fernsehen, Computerarbeit und Internet erhöht schon rein zeitlich die Bedeutung medialer gegenüber direkt erlebten Erfahrungen.
Eine ständig steigende Flut von Informationen verändert den Blick, ohne daß ihr Stellenwert, ihr Ursprung und ihr oft manipulativer Charakter durchschaut werden. Die zielstrebige Selbstbedienung auf der Datenautobahn fördert zudem die Individualisierung. Homo virtualis knüpft zwar weltweit Kontakte – aber meist blutleere zwischen einander Ähnlichen. Schließlich erschüttern die verschwimmenden Grenzen zwischen künstlicher und „echter“ Wirklichkeit, Körper und Maschine potentiell das ganze Menschenbild.
Wahrnehmung wird im Informationszeitalter zu einer Schlüsselkategorie. Deshalb ist es soviel wichtiger, die Wahrnehmungsvielfalt zu fördern als den schnell erlernten praktischen Umgang mit dem Computer. Da Wahrnehmung zudem das ideale Thema ist, um zwischen Biologie, Neurologie, Psychologie, Medienwissenschaften, Politik und Kunst das vernetzte Denken zu üben, gehen wir doch mal, wie Roman Herzog fordert, „an die Inhalte unseres Bildungswesens heran“ – und entwerfen die Lernziele für eine „Wahrnehmungskunde“.
Lernziel 1: „Die Sinne denken mit.“ Sie dienen ja nicht allein, wie die Werbung suggeriert, dem Genuß; ihre Botschaften bauen vielmehr von Anfang an das Gehirn auf und um. Was bedeutet es dann, wenn Sitzgrößen nur noch auf den Bildschirm gucken, durch Kopfwelten reisen und Tasten spüren? Wenn Ärzte statt durch Berührung immer öfter am Rechner Diagnosen finden? Riskiert die Informationsgesellschaft, wie Sven Birkerts über den „Tagebau amerikanischer Kultur“ schreibt, „eine Entfremdung wie nie zuvor in der Geschichte“? Augenmenschen müssen in die Näschenschule.
Lernziel 2: „Man nimmt nur wahr, wie man fühlt.“ Nicht allein Liebe macht blind, auch Gruppendruck, Bestätigungssucht, Trägheit, Angst vor Konflikten, Komplexität. Selbstwahrnehmung ist der erste Schritt zu
Lernziel 3: „Man sieht nur, wo man hinguckt.“ Wirklichkeit gibt es nur im Plural – jeder filtert seine. Das gilt auch für die politische Wahrnehmung: Warum ist etwa die Kleinfamilie, die lange als Brutstätte von Einengung und Psychoterror entlarvt wurde, plötzlich wieder ein Hort unendlicher Harmonie? Sind Krankheiten, deren psychische Ursachen gerade erst erkannt wurden, seit dem Gentechnik-Boom tatsächlich wieder rein biologisch determiniert? Oder Helmut Kohls Versprechen, die Arbeitslosigkeit bis zum Jahr 2000 zu halbieren – ein Verdrängungs-, also Wahrnehmungsphänomen?
Lernziel 4: „Man sieht nur, was gezeigt wird.“ Politik ist Wahrnehmungslenkung – jedenfalls das Bemühen darum. Wie eng sind Politik, Wirtschaft und Medien verzahnt? Wer filtert welche Informationen? Wo gibt es andere? Auch die Interessenfreiheit des Internet ist, je mehr es kommerzialisiert wird, desto mehr ein Mythos. Erkennbar zum Beispiel daran, daß Bill Gates' Wegweiser durchs Netz einen elektronischen Bücherbestelldienst von Bill Gates besonders positiv rezensiert.
Lernziel 5: „Man sieht nur, was man weiß.“ Wahrnehmung ist geprägt durch Erfahrung, Geschichte, Kultur. Die Informationsflut souverän zu nutzen wie ihr zu trotzen bleibt also ganz altmodisch auch eine Frage der Kenntnisse.
Die Spaltung der Gesellschaft in information rich und information poor, bei der die einen von den Netzen profitieren, während die anderen zu „Datensklaven“ und Zielscheiben der Unterhaltungsindustrie werden, ist insofern eine direkte Folge der Bildungsgerechtigkeit. Gefährlich, weil demokratiegefährdend ist daher die bei Roman Herzog spürbare Tendenz, nur noch die Eliteschulung im Blick zu haben. Vartan Gregorian hat seine Konsequenz gezogen: Er hat die Ivy-League-Uni verlassen, um die verarmten öffentlichen Schulen zu reformieren.
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