■ Schlagloch: Die trübsinnigen Deutschen Von Klaus Kreimeier
„Wo ist eigentlich die
Genialität der Deutschen
geblieben? Ihr Mut, ihre
Kühnheit, ihr Entdecker-
und Erfindergeist?“
Peter Schneider im
„Spiegel“ vom 10.11. 97
Nach neun in den USA verbrachten Monaten zurückgekehrt, trifft der Schriftsteller Peter Schneider, kaum hat er den Flughafen verlassen, gleich einen alten Bekannten: den miesepetrigen, grau gestimmten, mit sich selbst und der Welt gewohnheitsgemäß unzufriedenen Deutschen, dem – zumal, wenn er in der Variante des deutschen Intellektuellen auftritt – alles verdächtig ist, was sich in seinem Land bewegt. Sei es die Mutation der guten, alten, tugendhaften und etwas verschlafenen Be-Er- De in ein wiedervereinigtes Deutschland, das untergründig brodelt und, bei prekären Schichtungen im Inneren und ungewissen Perspektiven draußen, ins freie Gewässer treibt; sei es die neue Hauptstadt, die den Altlinken stets nur an Wilhelm Zwo und Hitler denken läßt; sei es der robuste Bauboom, der über den Potsdamer Platz fegt und sich dem notorisch verschnupften Philister der Nachwendezeit als eine teuflische großarchitektonische Verschwörung von Daimler und Sony aus dem Geist von Microsoft präsentiert.
Schneider hat ja recht. Es gibt ihn, diesen deutschen Querulanten, der auf Gedeih und Verderb einen lebenslangen Pakt mit dem Trübsinn geschlossen hat, um auf keinen Fall den Verdacht zu erwecken, er sei oberflächlich, „unkritisch“ oder gar (unvorstellbar!) ein glücklicher Mensch, der sich in einer wenn auch schiefen Gesamtlage halbwegs komfortabel eingerichtet und neugierig die Nase in den Wind steckt. Es gibt diese (vielfach linken Enttäuschungen entstammende oder einfach nur spießige) Mischung aus Misanthropie und Unhöflichkeit, schlechter Laune und Arroganz, Kleinmut und Mißtrauen, die den Alltag hierzulande schwer erträglich macht. Und Peter Schneider ist auch auf der richtigen Spur, wenn er bei vielen Deutschen ein höchst unerquickliches Mixtum aus Selbsthaß und mangelndem Schönheitssinn wittert. Beide münden in die Unfähigkeit, der individuellen Biographie und dem gesellschaftlichen Leben eine couragierte Form zu geben. So zutreffend also Schneiders Beobachtungen sind – sein Appell an die offenbar untergegangene „Genialität“ der Deutschen, an ihren in der Geschichte erprobten „Mut“ ist zumindest zweischneidig, und seine Argumentation kommt an dieser Stelle ins Schleudern. Als wolle er schnell alle Spuren, sprich: Anklänge an die „Deutsche, reißt euch am Riemen!“-Appellatorik des Bundespräsidenten verwischen, schwenkt er schnell ins vertraute Nest und ins altlinke Fahrwasser zurück, indem er uns den Mut der „schätzungsweise 10.000 Familien“ preist, die im Berlin der Nazizeit Juden vor der Gestapo versteckt gehalten haben.
Klar, das war Mut; ein Schuft, wer sein Andenken nicht hochhalten würde. Das Problem ist nur, daß uns dieser Mut augenblicklich nicht weiterhilft. In Deutschland herrschen keine Faschisten, sondern ziemlich ausgelaugte Demokraten, die das allgemein vorgegebene Globalisierungsalphabet nachplappern, ohne in der Lage zu sein, die sozialen und ökonomischen Weichen so zu stellen, daß wir uns unerschrocken, ausgestattet mit kulturellem Selbstbewußtsein, den globalen Märkten stellen könnten. Von einem geläuterten, aber nicht abgeklärten 68er wie Peter Schneider hätte ich gern vernommen, welchen Mut er uns empfiehlt angesichts der Stürme, die unweigerlich kommen und nicht nur die letzten linken WGs in diesem Land zausen werden.
Es gibt ja eine Menge kostenlosen Mut bei uns, der den Besonnenen eher verstummen läßt. Nicht nur der miesepetrige Deutsche schlägt einem aufs Gemüt – auch sein schriller Bruder, der mit der umgedrehten Baseballmütze, der im geleasten BMW die linke Autobahnspur mit der Lichthupe leerfegt und vor Optimismus schier aus den Nähten seines ballonseidenen Outfits platzt. Auch der kann einem ganz schön auf die Nerven gehen. Rundfunk und Fernsehen sind, zu 90 Prozent, vollgestopft mit diesem ebenso gespenstischen wie marktkonformen, dem Markt sich anbiedernden Optimismus; sie schreien ihn nachgerade heraus – in Tonlagen, die außer dem Stimmbruch keine Anfechtungen, geschweige Selbstzweifel kennen. Marketing und Werbung propagieren einen neuen sozialen Typus, der exakt dem Selbstbild dieses hoffnungsfrohen Aufsteigers entspricht – Anpassungsfähigkeit, Mobilität, Dynamik und Selbstvertrauen eines ewigen Zwanzigjährigen, der die Zukunft im Handstreich erobert, weil er keine Vergangenheit und keine Erinnerung hat. Natürlich auch keine Gegenwart, denn dieser Typus ist, bei Licht betrachtet, ein Phantom. Es gibt ihn allenfalls in Form der vielen Möchtegerne, die einem die schönen Sommerabende mit ihren Soundboxen versauen.
Leben wir also in zwei Kulturen oder vielmehr Unkulturen, eingekeilt zwischen konservativer Verzagtheit und postmoderner Hochstapelei, zwischen nostalgischem Altherrengemurmel und Datenautobahn, zwischen der „Selbstverpflichtung zum Mißmut“ (Schneider) und der Selbstanfeuerung zu einer guten Laune, die ohne Coaching, ohne den Applaus einer auf Raserei getrimmten Fangemeinde nicht zu haben ist? Zeichnet sich hier das gegenwärtig aktuelle Links-Rechts-Schema ab: links der Miesepeter, rechts die Baseballmütze?
Ich vermute eher, wir haben es mit zwei ungleichen Brüdern zu tun, zwei Ausprägungen derselben Misere. Der Wirklichkeitsverlust, den der USA-Heimkehrer Peter Schneider in Deutschland diagnostiziert, geht zu Lasten beider Seiten. Will der mißvergnügte politische Kannegießer die realen Erfolge nicht sehen, die dieses Land seit 1989 – trotz verfehlter Regierungsentscheidungen, horrender Treuhandskandale, anhaltenden Wirtschaftsgefälles zwischen West und Ost und wachsender Arbeitslosigkeit – letztlich erreicht hat, so sind dem chronischen Bruder Lustig der 90er Jahre Erfolge und Mißerfolge des Gemeinwesens ohnehin vollkommen egal, solange er den neuesten Schlitten in die Garage und die Steuerabschreibungen am Fiskus vorbei aufs Bankkonto bringen kann.
Eine „fast verbotene Frage“ nennt Peter Schneider seinen Stoßseufzer, wo die Genialität der Deutschen geblieben sei. Nein, nein, es ist durchaus erlaubt, diese Frage zu stellen. Nur: Sie bleibt rhetorisch und geht an der Sache vorbei. Allzu oft haben die Deutschen ihre Genialität und alle anderen guten Eigenschaften in fragwürdige bis mörderische Unternehmungen investiert. Heute verplempern wir sie im Austüfteln neuer Ladenschlußzeiten oder im Streit um eine totgeborene Rechtschreibreform. Und selbst im Aussitzen aller wirklichen Probleme oder in Manövern der puren Machtabsicherung kann man viel Genialität verschleißen. Haben wir nicht einen genialen Kanzler? Durchaus. Wir sind überhaupt ein geniales Volk. Nur mit der Relation zwischen Wahrnehmung und Handeln klappt es derzeit nicht.
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