■ Schlagloch: Notizen von der Überholspur Von Nadja Klinger
„Man könnte von zwei verschiedenen Beglaubigungstechniken des Urteils sprechen: ... das Vertrauen in die Substanz der eigenen Rede und das Vertrauen in die Instanz der eigenen Position.“
Die „Süddeutsche Zeitung“
vom 29. Juni über die
Urteilsweise der Jury beim
Ingeborg-Bachmann-
Wettbewerb in Klagenfurt
Im Herbst 1990 legte der Fahrlehrer seine Hand auf meinen Oberschenkel und wies mich an, auf die Überholspur zu fahren. Also beschleunigte ich, gab mit dem Blinker das vorgeschriebene Zeichen, scherte aus. Da tauchte aus dem Nichts ein Wagen auf und schoß im Rückspiegel auf mich zu. Ich trat das Gaspedal voll durch, jedoch vergebens. Überlebt habe ich, weil ich schnell wieder nach rechts zurückfuhr.
Der Fahrlehrer, zunächst erleichtert, erklärte dann, daß so – „jedenfalls in der Bundesrepublik“ – kein Führerschein zu haben sei. Folglich habe ich das Überholen gelernt. Im Grunde ist es nicht schwer, wenn man es nur schafft, sich selbst zu vergessen – die eigenen Erfahrungen, den verläßlichen Instinkt – und sich voll und ganz auf die anderen konzentriert, auf deren Tempo, auf deren unerklärlichen Rhythmus von Bremsen und Beschleunigen, auf die Lücken, die sie lassen. Das Überholen verläuft gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes: Nicht die eigene Fahrweise ist relevant, sondern lediglich die Tatsache, ob man sich mit seinen Entscheidungen in den Ablauf einordnen kann.
Seit ich den Führerschein der Bundesrepublik Deutschland besitze, habe ich schon so einige Manöver hinter mir. Ich überhole geübt, zunehmend furchtlos und immer öfter. Zugegebenermaßen suche ich mir die größten Lücken, nicht weil die Autos auf der Überholspur schneller sind, sondern weil sie nicht bremsen. Sie haben vollstes Vertrauen – weniger in die Verkehrsregeln und schon gar nicht in mich, sondern „in die Instanz der eigenen Person“. Zwischen ihrer Spur und der meinen verläuft die Grenze, jene Mauer, hinter der sich vor Jahren ein Trabi quälte, um mitzuhalten beim Vergleich der Systeme.
Wegen jener Gewißheit über die eigene Instanz rügte die Süddeutsche Zeitung dieser Tage eine Klagenfurter Jurorin: „Wenn sie spricht, kann man mitverfolgen, wie das Bewußtsein, eine einflußreiche Kritikerin zu sein, jedes Argument überflüssig macht. Sie kritisiert, indem sie ohne Kommentar zwei oder drei Stellen vorliest. Sie lobt, wie ein Trainer, dessen Autorität über jeden Zweifel erhaben ist, einen jungen Spieler lobt.“
Ehrlich gesagt weiß ich nicht, warum sich die Zeitung aufregt, wieso sie das überhaupt bemerkt. Denn hier handelt es sich nicht um Literatur, sondern um das Leben. Die auf der Überholspur geben das Niveau vor, und wir Ostdeutschen können uns einordnen: die sogenannten Linken zu den unverbesserlichen westdeutschen Träumern; Christa Wolf zu Günter Grass; Jens Reich und Friedrich Schorlemmer in die Reihe der westdeutschen „Medien-Intellektuellen“; überhaupt alle DDR-Intellektuellen zu den „kritischen Geistern, die Karrieren machen“ (Die Zeit); die 89er Revolutionäre zu den Rebellen von 1968; die pragmatischen Studenten von heute zu den utopistischen von damals; und all die, die mit der DDR den Glauben verloren haben, zu denen, „die einst die BRD verändern wollten“. Die Überholer haben alles schon hinter sich, und wenn sie sich über eine Angelegenheit den Kopf zerbrechen, dann nur so lange, bis sie ihnen bekannt vorkommt. Berlin, beispielsweise, rast darauf zu, daß die Grundschulzeit in der Stadt auf vier Jahre herabgesetzt wird. Die anschwellende Debatte darum, ob das wünschenswert oder schlecht ist, ist wie so vieles hier mit dem Zuzug der Bonner verbunden und wie alles in diesem Jahr mit der Bundestagswahl. So sind Berlin und Brandenburg einerseits die einzigen deutschen Bundesländer mit sechsjähriger Grundschule. Andererseits ist Deutschland mit der nur vierjährigen Grundschulzeit die Ausnahme in Europa.
So hält der Regierende Bürgermeister Diepgen es einerseits für eine Herausforderung, die Kinder mit zehn, elf Jahren nach Leistungen zu trennen. „Raus aus den Mauern des Denkens“, fordert er, sonst könne man „Berlin nicht auf das 21. Jahrhundert vorbereiten“. Andererseits wollen der Schulsenat, der Lehrerbeirat und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaften Kinder aus unterschiedlichen sozialen Mileus solange wie möglich beieinander halten.
Auch Eltern fordern dies, vor allem im Osten, wo sie erlebt haben, daß es gut für die Kinder war, sogar acht Jahre zusammenzusein. Natürlich lernt kein Kind, solidarisch zu sein, nur weil der Banknachbar anders, ärmer, dümmer ist als es selbst. Daß die Unterschiede dennoch nicht spät genug institutionalisiert werden sollten, entspricht den Erfahrungen, die Eltern wie Lehrer zur Genüge machen, Erfahrungen mit dem, was die Grundschule leistet und was nicht. Seit Jahren setzen sich engagierte Eltern und Lehrer dafür ein, das Niveau der Grundschulen zu heben. Es gibt Klassenleiter, die ihre Klassen sechs Jahre zusammenhalten – wenn sie nicht vorher aus Spargründen entlassen werden –, weil keiner der Schüler vorzeitig von ihnen weg will. Diese Lehrer sind die Ausnahme, aber ein Anfang.
Jeglichen Anfang jedoch, der im Osten sinnvoll ist, haben die im Westen längst hinter sich. Für den westdeutschen Feuilletonisten der Berliner Zeitung beispielsweise sind diejenigen, die die Berliner Grundschulen lassen wollen, wie sie sind, „energisch für den Status quo“. Natürlich ist der Status quo für den Raser von gestern. Mit jedem zurückgelegten Kilometer liegt das leidige Problem der westdeutschen Grundschule, die nicht zu leisten vermag, was sie leisten soll, weiter zurück. „Es ist das alte Elend der linken Pädagogik“, heißt es in der Zeitung weiter, „aus der ersten Freude an den guten Absichten über die unvermeidliche Enttäuschung ins Bürokratische zu fallen.“
Kann man sich auf der Überholspur vorstellen, daß man im Osten mit „linker Pädagogik“ nichts am Hut hat? Würde man es überhaupt verkraften, wüßte man, daß die meisten „89er Revolutionäre“ nie etwas von den 68ern gehört haben? Wohl nicht. Denn dann hätte man längst einmal stehenbleiben müssen, mitten im verabscheuten Status quo, man hätte mal den Motor ausschalten, zusehen und hören müssen, ob es Erfahrungen gibt, die in kein Schubfach passen. Dann allerdings könnte es passieren, daß westdeutsche Erfahrung weniger wert wäre als ostdeutsche Substanz. Kaum vorstellbar, wie es dann auf der Überholspur zugehen würde. Eigentlich unvorstellbar.
„Und nun den fünften Gang“, wies mich 1990 mein Fahrlehrer an, nachdem ich mich eingeordnet hatte. Ich trat die Kupplung, führte den Knüppel nach vorn, nach rechts, nach vorn – und stieß an das, wohlweislich dort geparkte, Knie des Mannes. „Lassen Sie uns erst einmal anhalten und Pause machen“, schlug der Fahrlehrer mit autoritärer Stimme vor. „Ich hab uns eine Banane eingepackt.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen