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■ SchlaglochWir Wortwarte Von Friedrich Küppersbusch

„Mehrzweckhalle!“

Johannes Willms, „Süddeutsche Zeitung“, bei einer Jurysitzung Anfang 98 zu den „100 Worten des Jahrhunderts“

Und da hat er natürlich recht. Ich finde, auch ohne „Sabine“ wäre für mich dieses Jahrhundert nicht denkbar, jedenfalls nicht wünschbar gewesen. Wohingegen ich es gerne ohne „AIDS“, „Holocaust“ und jede Form von „Fundamentalismus“ wenigstens mal versucht hätte. Aber es kam anders.

3sat, die beste Begründung für Fernbedienungen mit mehr als zehn Speicherplätzen, hatte eingeladen. Man plane die Kompilation einer Liste der 100 wichtigsten, kennzeichnenden Worte des ablaufenden Jahrhunderts. Suhrkamp, Deutschlandradio, die Süddeutsche und das Fernsehen, das man in dem Fall selbst sei, seien auf jeden Fall mit dabei. Ob man zur Jury stoßen möchte?

Man nehme sieben deutschsprachige Autoren, Journalisten, Kritiker, Wissenschaftler. Bitte jeden, sich im Vorfeld schon mal seine 100 Favoriten auszuwählen. Zähle diese bei der ersten Jurysitzung zusammen und komme auf eine Summe von 811. Der darauf entbrennende Methodikstreit werde gewürzt mit der Frage, ob der Plural des Wortes „Worte“ hier „Worte“ oder doch „Wörter“ sei. Wären nicht „Worte“ des Jahrhunderts stets mehrere, also sinngemäß eher „Aussprüche“, während „Wörter“ einzelne Worte wären? Ist also der Plural richtig, weil wir Singular meinen, wohingegen der Singular fälschlich auf Plural schließen ließe?

Beim Mittagessen im Refektorium des hessischen Klosters, in dem die Jury erstmals tagte, sammelte Frau Frank-Cyrus von der Gesellschaft für deutsche Sprache neidische Blicke. Die müssen ja auch nur Unwörter finden! Draufhauen ist immer leichter. Wir dagegen sollen etwas hinstellen, wo dann die andern alle draufhauen: „Ja, wo ist denn bitte ,Marxismus‘ auf eurer Liste?“ „Ja, und ,Kommunismus‘ oder ,Marktwirtschaft‘, war das nicht der Kernstreit des 20. Jahrhunderts?“ Das herbeigeeilte intellektuelle Potential reichte allemal, sich farbenfroh auszumalen, wie wir uns verreißen würden, wenn wir nicht wir wären. Genauer: Wenn wir zwar wir, aber wir nicht hier wären.

„Es recht zu machen jedermann ist eine Kunst, die keiner kann“, wäre zum Beispiel ein Wort, wohl aber kein Wort des Jahrhunderts. „Siegfrieden“ dagegen ist ein ganz klares Wort, sogar vom Anfang des Jahrhunderts, wo wir alle uns altersbedingt unterbelichtet wähnen. Ja, dann aber auch „Steckrübenwinter!“. Nein, das kann man nun wirklich nicht neben „Shoah“ in eine Liste schreiben. „Shoah? Wenn wir verstanden werden wollen, sollten wir doch wohl ,Holocaust‘ schreiben!“ – „Holocaust? Der Massenmord des Jahrhunderts tritt nur in seiner Hollywood- Verharmlosung auf?“ – „Wie hieß denn das zeitgenössische Wort? Wie hat man es damals genannt?“ – „Gar nicht. Man sprach nicht darüber. Manche behaupten noch heute, man hätte es ja so nicht gewußt.“ – „,Gar nicht‘ taugt als Wort des Jahrhunderts aber auch nicht. Und die zeittypische Codierung hieß ,Endlösung‘, wenn überhaupt!“ Ein knappes Dutzend Erwachsener sitzt im Halbkreis und diskutiert die Endlösung der Endlösungsfrage. Wollen wir wirklich einen Nazipropagandaspruch adeln? Ja wie, Endlösung stammt doch noch von Kaiser Wilhelm! Kann man ein Wort wenn nicht finden, so vielleicht erfinden? Klar. Wenn die Aufgabe hieße, die 100 Worte zu finden, die diesem Jahrhundert ganz dringend noch fehlen.

Nachdem beinahe jeder seine abweichende Meinung zu Protokoll gegeben und jedenfalls seine Bedenken gegen das 80er-Jahre- Wort „Holocaust“ zur Kennzeichnung eines 30er-/40er-Jahre-Geschehens vorgebracht hat, ist das Wort raus. Ein anderes ist nicht konsensfähig. Dann schaut jemand in die Vorbereitungsunterlagen und stellt fest, daß „Holocaust“ von den meisten Juroren vorgeschlagen worden war. Gegenstimmen? Gut. Wir haben ein Wort.

Faschismus Leninismus Marxismus Trotzkismus Stalinismus Marxismus Kommunismus Bolschewismus Imperialismus Fundamentalismus Sexismus? Na ja. Lenin und Stalin, Kommunismus und die Bolschewiki beruhten nun doch wohl ursächlich auf Marx. Also alle raus bis auf „Marxismus“. Nenene, was Marx erfunden hatte, nannte man zeitgenössisch „Kommunismus“. Ja, aber das ist doch dann wohl ein Wort des 19. Jahrhunderts. Also alle wieder rein bis auf Marx und Kommunismus! Vorschlag zur Güte: Mit „Kommune“ würden wir dann auch noch die 68er abdecken. Oder ganz elegant: „Ismus“ und fertig. Gibt's Kaffee?

„AIDS“ ist natürlich kein Wort, sondern eine Abkürzung. Wie BMW oder AEG oder CDU. Aber gerade das gibt Auskunft über die Entwicklung der Sprache in diesem Jahrhundert: Ein neues Wort im deutschen Wortschatz, das die Abfolge der Anfangsbuchstaben von vier englischen Worten ist. Auch „Comic“, „Beat“, „Design“, „Image“, „Jeans“, „Pop“, „Rock 'n' Roll“, „Sex“, „Single“ und „Streß“ drücken etwas vom Wesen dieser hundert Jahre aus und etwas von der Art, wie deutsche Sprache sich entwickelte. Ohne Gorbatschows „Perestroika“ wäre der Russe ganz raus. Ach nee, „Sputnik“ auch. Gut dreihundert Jahre nach Auswanderung der Buren findet das niederdeutschstämmige „Apartheid“ über Südafrika zurück nach Deutschland. Man kann diese Epoche offenbar ganz gut daran erkennen, daß es kein französisches Wort unter die Top 100 schaffte. Kindergarten, Waldsterben, Autobahn, Volkswagen? Mindestens diese vier haben wir exportiert, so zitiert man uns im französischen und englischen Sprachraum. Also Kindergarten nun wirklich nicht, vielleicht Waldsterben? Autobahn und Volkswagen: OK.

„Heroin“: sprechend, plastisch, pars pro toto. Wortwurzel: das Heroen-Mittel, Heldenmedizin. Gäbe es in der Pharmabranche die Verursacherhaftung, zahlte Bayer sich wund allein für die materiellen Folgeschäden. Das Betäubungsmittel aus dem Ersten Weltkrieg aber meinen wir nicht allein, und die Analogbildung Kokain ist vielleicht sogar älter? Mit Fortgang der Juryarbeit legte sich die Angst vor dem Einwand, stieg der Ehrgeiz, Themen abzudecken. Walter Jens regt an, die Liste erst im Dezember zu veröffentlichen. Das nimmt Druck, bevor die Besserwisser zuschlagen können. Also „Drogen“. Schade um „Heroin“. Um diese Zeit, später Nachmittag, starb dann auch die Mehrzweckhalle. Die ist nämlich, wie aber auch vieles, was nicht „Mehrzweckhalle“ ist, aus: „Beton“.

Und ich beton an dieser Stelle: Ja. Es sind 99 Substantive geworden. Dafür haben wir nach bestem Ermessen die großen Themenfelder dieses Jahrhunderts abzudecken versucht. Herr von Matt hat sich verdienstvoll für bildhafte, sprechende Begriffe eingesetzt: Kugelschreiber und Reißverschluß danken sich diesem Engagement. Verrisse werden nur unter Beigabe einer vom Kritiker zu verfassenden besseren Liste entgegengenommen. Übrigens: Wir haben „Liste“ vergessen. Und das einzige Adjektiv wird nicht verraten.

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