Schlagloch: Mittelmaß und Machtwahn
Von Klaus Kreimeier
„Schäbig und primitiv!“ (CDU-Kritik an der Drohung der SPD mit Beugehaft für Kohl)
Ist Helmut Kohl eine tragische Figur? Nun, da die SPD im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss im Falle einer Aussageverweigerung bereits mit Beugehaft droht, mag sich diese Frage aufdrängen, und dass konservative Publizisten sie in den nächsten Wochen ausgiebig erörtern werden, scheint unvermeidlich. Bietet sich doch den geschichtsbewussten, stets auf ein Joint Venture mit dem Weltgeist spekulierenden Interpreten die einmalige Gelegenheit, zum Ende dieses insgesamt ziemlich missratenen Jahrhunderts den deutschen Verhältnissen noch schnell eine Prise Tragik, will sagen: gescheiterter Größe beizumischen und so ein Desaster, das eher von politischem Mittelmaß zeugt, zu einem Bühnenstück aufzublasen, an dessen Ende sich vor einem betäubten Publikum langsam und schwer der purpurrote Samtvorhang des Schicksals schließt.
Hätte Kohl Größe – oder das, was eine noch immer im Banne Leopold von Rankes schriftstellernde Publizistik so nennt –, so würde er sich gar nicht erst auf Klaus Bressers Fragen einlassen, um sie dann doch nur als abwegige Frechheiten eines journalistischen Schlingels abzukanzeln. Er würde sich den Interview-Scharmützeln überhaupt entziehen und stattdessen ein Kamerateam zu sich bestellen, um zum deutschen Volk also zu sprechen: „Ja, es ist wahr, ich habe in vollem Bewusstsein und mit wohlerwogener Absicht das Gesetz gebrochen und etwas getan, was mir die Pfennigfuchser dieser Republik verwehren wollten. Mir wurden Millionen geboten, und ich habe zugegriffen, um die Macht und den Einfluss meiner Partei zu mehren, meine Regierung zu festigen und unser Volk vor dem Unglück zu bewahren, das am 27. September vergangenen Jahres bedauerlicherweise über uns hereingebrochen ist. Ich habe Großes gewollt und bin groß gescheitert. Nun entscheidet selbst, ob ihr mich als ertappten beltäter in die Wüste schicken oder als Staatsmann, der in erhabeneren Dimensionen denkt, dem Urteil der Geschichte überantworten wollt.“
So oder ähnlich würde ein Oggersheimer sprechen, der, in den Mantel der Epoche eingehüllt, bereits nach einer Ruhestätte neben dem Kyffhäuser Ausschau hält. Stattdessen wird es quälende Auftritte vor dem Untersuchungsausschuss geben, voraussichtlich staatsanwaltschaftliche Ermittlungen, die lange auf der Stelle treten werden, und Fernseh-Interviews, die alle Beteiligten peinigen und dem halb zerknirschten, halb noch immer auftrumpfenden Sünder gerade so viel Wahrheit aus der Nase ziehen werden, wie zuvor jeweils der Staatsanwalt oder die SPD oder gar die von der CDU bestellten Wirtschaftsprüfer an den Tag gebracht haben.
Kohl ist keine tragische Figur, und vermutlich weiß er selbst dies sehr genau. Und seine Freunde, die nun seine „historische Größe“ aus dem schrillen Gezänk um die Parteispenden heraushalten und auf ein Podest heben wollen, das es in der Demokratie nicht gibt, verheddern sich einfach im politischen Stil; sie wähnen sich noch in den Zeiten des Hoftheaters, während die Realität längst bei den audiovisuellen Medien angekommen ist.
Den Verächtern der Demokratie ist zuzustimmen: Für Tragik bietet dieses politische System keinen Raum, und der Anspruch auf Größe macht sich im täglichen Geplänkel um den kleinen Vorteil eher lächerlich. Demokratie „nivelliert“ und ebnet reale und eingebildete Unterschiede im Auftrag des Volkssouveräns gnadenlos ein. Die letzte tragische Figur der deutschen Geschichte war Bismarck – er hatte noch ein Konzept für einen dauerhaften, durch komplizierten Machtausgleich ausbalancierten Frieden in Europa; als Wilhelm seinen Lotsen von Bord schickte, trieb das Schiff bereits gefährlichen Gewässern zu. Kohl hatte kein Konzept, als der Kommunismus zusammenbrach – in besinnlicheren Momenten gestand er selbst stets ein, dass er als Kanzler der Einheit sozusagen nur zufällig eingesprungen und keineswegs als ihr Architekt anzusehen sei. „Geschenke“ der Geschichte nimmt man selbstverständlich an – zumal wenn man sich selbst mit der Geschichte im Bunde glaubt. Die Geschenke der Konzerne hingegen hat Kohl gewiss nie als unverdientes Glück empfunden, sondern als unmissverständlichen Auftrag, auch etwas für die Konzerne zu tun – zumal er sich mit ihren Interessen meist im Bunde wusste.
Demokratie, so ist aus alldem zu schließen, ist ein mediokres Geschäft; Mittelmaß und Machtwahn paaren sich in ihr zu einem für ästhetische Ansprüche nicht besonders geeigneten Gebilde, das wir in Ermangelung präziserer Begriffe Politik nennen und in dem wir uns selbst letztlich wieder erkennen – zumindest unser Bedürfnis, über die Runden zu kommen und von größeren Katastrophen nach Möglichkeit verschont zu bleiben. War der Nationalsozialismus nicht ein mörderischer Versuch, gegen die Demokratie und den erreichten Entwicklungsstand der Zivilisation obsolete Kategorien wie „Tragik“ und „Größe“ noch einmal mit Gewalt durchzusetzen – mit dem Ergebnis, dass sie als historisch-politische Maßstäbe ein für alle Mal desavouiert waren? Und ist dem Scheitern des sozialistischen Experiments Tragik zuzubilligen? Der Begriff löst sich auf, wenn der Blick zurück auf das heruntergewirtschaftete Paradies nur Inkompetenz erfasst: fachliches und menschliches Versagen, wobei das eine unentwirrbar sich mit dem anderen verschlingt.
Die kommenden Wochen werden unerquicklich verlaufen – für die Beteiligten wie für das entnervte Publikum und unabhängig davon, ob sie die „volle Wahrheit“ ans Licht bringen oder die Staatsbürger wieder einmal hinter dasselbe führen werden. Die Beleuchtungsverhältnisse in der Demokratie sind notorisch grau in grau, Transparenz und klare Sicht weniger eine Frage der Machtkonstellation als der Wahnvorstellung einzelner Machthabender, mehr Macht zu besitzen, als ihnen die Wähler zugeteilt haben.
Denn der Zusammenbruch des Systems Kohl beweist zweierlei: zum einen, dass es dieses System überhaupt gab und mit ihm die gezielte Absicht der Mächtigen, ihre Macht zu missbrauchen; zum anderen, dass die Vorstellung der Mächtigen über den Umfang ihrer Macht ein Trugschluss war. Selten reicht sie so weit, um die Aufdeckung dessen zu verhindern, was unter ihrem Schutz geschah. So verbindet sich in der Praxis oft politisches Versagen mit Fehleinschätzungen und handwerklicher Pfuscherei – eine Mischung, die in einer prall mit Banknoten gefüllten Aktentasche ihr wahrhaft kongeniales Corpus Delicti und in Protagonisten, die hier zufällig Leisler Kiep oder Schreiber heißen, ihre authentischen Akteure gefunden hat.
Anmutig ist das Bild, das derzeit unsere Demokratie bietet, gerade nicht; doch mit dem tragischen Schema und der Konstruktion historischer Größe ist es endgültig aus und vorbei. Zumindest in diesem Sinne sind wir ein normales Land geworden, und zur Normalität der Demokratie gehört, dass auch ein ehemaliger Regierungschef mit Beugehaft zu rechnen hat, wenn er in heiklen Fragen die Auskunft verweigert. „Schäbig und primitiv“ mag das schimpfen, wer noch von Podesten träumt. Doch wenn das Denkmal wackelt, fällt der Schimpf auf den Schimpfenden zurück.
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