Schlagloch Ägypten: Heldinnen werden gelöscht
Die Muslimbrüder zensieren jetzt die Schulbücher. Frauen werden aus der Geschichte und dem Gedächtnis gelöscht. Muss ich umdenken?
I n Dantes „Göttlicher Komödie“ gelingt den Dichtern ihre Flucht aus der Hölle kurz vor Ostern im Jahr 1300. Cato von Utica – der Hüter des Tors zum Fegefeuer – betrachtet sie zunächst als eine Art unfreiwillige Flüchtlinge und fordert von ihnen Beweise für ihre Schuld. Erst dann dürften sie sich im Fegefeuer von ihren Sünden reinigen. Die Dichter fügten sich und fanden sich bald am Fuß vom Berg des Fegefeuers wieder und schickten sich an, diesen hinaufzuklettern.
Es gibt eine Analogie zwischen Dantes Dichtern und Ägyptens Revolutionären, zwischen der Last der Geschichte und Dantes Hütern des Tors zum Fegefeuer.
Zwei Jahre nach der ägyptischen Revolution haben sich die Interpetationsfronten weiter verhärtet – zumindest unter den politisch Denkenden – und ihre Zahl ist in Ägypten sprunghaft angestiegen. Spätestens seit Präsident Mursis Erlass vom 22. November 2012 stehen auf der einen Seite diejenigen, die den Muslimbrüdern vorwerfen, faschistische Tendenzen und versteckte Agenden zu haben. Den Prozess, die neue Verfassung durch ein Referendum absegnen zu lassen, beschreiben sie entsprechend als „Durchmarsch“.
Auf der Gegenseite versammeln sich alle, die finden, dass die nichtislamistischen Kräfte völlig zu Unrecht das Ergebnisse der Wahlen ablehnen, immerhin waren diese fair. Dass sie jetzt auch noch den Verfassungsentwurf und den Ratifizierungsprozess als illegitim charakterisieren, erscheint ihnen als Gipfel der Unverschämtheit. Die Stimmung ist düster; die Flitterwochen der Revolution sind zweifellos beendet. Bleibt die Frage: Braucht Ägypten mehr Romantik oder mehr Pragmatismus?
Kein Koknsens über gemeinsame Zukunft
promovierte in Islamwissenschaften in Harvard und hat derzeit ein Postdoc-Stipendium an der University Brandeis für Religion, Kultur, Gender und Recht. Sie lebt in Kairo.
Das größte Problem ist, dass es nur einen kleinen bis gar keinen Konsens darüber gibt, wie eine gemeinsame Zukunft aussehen könnte. Intuitiv setzen beide Seiten auf kreative Destruktion – mach alles nieder, was da ist, und fang noch mal von vorne an (wie das gehen soll, wird dabei selten dargelegt). Oder: Schütze die verbliebene Stabilität um jeden Preis, auch wenn das bedeutet, mit dem Teufel zu kooperieren. Die Gretchenfrage ist und bleibt: In welchen Punkt sind die Ängste vor den Islamisten gerechtfertigt?
Den Islamisten haftet entweder der Ruf an, sie würden das Land in den Abgrund stürzen. Mit diesem Albtraumszenario stilisieren sich autoritäre Regime als notwendiges Bollwerk – ein gigantischer Siegeszug mangelnder Fantasie. Das prominenteste Beispiel ist die Herrschaft von Bashar al-Assad. Variante 2: Die Muslimbrüder werden als authentische Figuren des Widerstands gehandelt. Dieser Mythos wurde in den letzten Wochen geschleift. Die Religiösen wurden einer beispiellosen Realitätsprüfung unterzogen.
Was die Scharia angeht, ist es sicher richtig, dass es bei dieser Diskussion mehr darum geht, eine symbolische Autorität zu erheischen, als darum, tatsächlich die Gesetze zu ändern. Ein Blick in die Geschichte genügt. 1970 forderten die Muslimbrüder vehement die Einführung der Scharia – und lenkten schließlich ein. Am Ende war es in Ordnung, dass die Scharia nur noch eine islamische Referenz für die ägyptische Verfassung bildete.
Doria Shafiq? Weg damit!
Viele, die sich gegenwärtig über Mursis Erlass und die politisch tolpatschigen Muslimbrüder aufregen, sehen ihre Wut durch Unterstellungen geadelt, die „Brüder“ benutzten die Demokratie nur, um rechtstaatliche Institutionen mit ihrer Ideologie zu tränken. Genau diese Annahme hielt ich noch bis vor kurzem für haltlos. Ich fand schlicht keine Belege dafür, dass die Brüder ihre Macht anders einsetzten als andere Politiker in ihrer Position.
Und dann erfuhr ich das: Das neue von den Islamisten dominierte Erziehungsministerium hat die ägyptische Feministin Doria Shafiq (1908–1975) aus den neuen Schulbüchern für 2013/14, für die Klassen 11 und 12, tilgen lassen. Zusammen mit den Bildern der Toten der Revolution. Als Grund gab der Berater für Philosophie und Nationale Erziehung des Ministeriums, Mohamed Sherif, an, „dass einige religiöse Satelliten Programme Shafiq ablehnten, da sie keinen Hidschab trage“.
Aber wer ist dieser „Mohamed Sherif“? Dieser Name ist in Ägypten so häufig! Heißt das, dass am Ende „irgendeiner“ entscheiden kann, dass man jetzt mal Doria Shafiq aus den Geschichtsbüchern streicht? Doria Shafiq, die 1951 gemeinsam mit Hunderten Streiterinnen das ägyptische Parlament stürmte, um das aktive und das passive Wahlrecht für Frauen einzuklagen.
Doria Shafiq, der ein Posten an der Universität verweigert wurde, nachdem sie ihren Doktor in Philosophie an der Sorbonne in Paris gemacht hatte, weil – man sagte das offen– sie nun mal eine Frau sei. Doria Shafiq, die Nasser 18 Jahre lang unter Hausarrest stellen ließ, bis sie sich 1975 vom Balkon stürzte und starb. Doria Shafiq, die auf Nassers Anordnung hin aus den Geschichtsbüchern gelöscht wurde. Ja, das hat eine ägyptische Regierung schon mal gemacht. Auch sie begann als revolutionär und endete als Diktatur – und sie läutete den schleichenden Ruin des Landes ein.
Berg des Fegefeuers
Ich sollte also etwas weniger Geduld mit den Muslimbrüdern haben. Denn es gibt ein Muster. Frauen werden buchstäblich aus der Geschichte und dem Gedächtnis gelöscht. Wieder mal.
Da stehen wir also, zwei Jahre nach unserer Revolution. Wir stehen ganz unten Berg des Fegefeuers – nachdem wir aus der Hölle geklettert sind – und wir sollen geduldig sein und Demütigungen hinnehmen. Die Sehnsucht nach einer neuen (Revolutions-)Romantik, um gegen die Enttäuschungen anzukämpfen, beißt sich mit unserem Pragmatismus, das gegenwärtige Arrangement funktionieren zu lassen, immerhin ist es eine Frage des Überlebens.
Das ist nicht die Revolution, die wir wollten. Und so wichtig es ist, dass gerade die lautesten unter uns besser mit der Regierung zusammenarbeiten – wenn diese weiter unsere Zeit verschwendet, dann müssen wir sie in einem legitimen politischen Prozess wieder loswerden. Das Erbe der Revolution vom 25. Januar 2011 ist vielleicht genau das: Wir wissen, dass das möglich ist.
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