: Schlagkräftige Leidenschaft
Den richtigen Ton trifft sie immer – genau wie die Lücke in der Deckung des Gegners: Marion Einsiedel hat einst das Frauen-Boxen in Deutschland emanzipiert. Jetzt ist sie die einzige Faustkampf-Trainerin Norddeutschlands mit einer B-Lizenz
von Tim Daugs
Am Anfang dieser Leidenschaft stand bloß eine Banalität. Eine Wette nämlich. Und weil Marion Einsiedel vor 13 Jahren eine solche verlor, musste ihr Freund damals nicht mit zum Trommeln gehen, sondern sie mit zum Boxtraining. Man ließ sie mitmachen. Am 19. November 1994 dann, zwei Jahre nach dem Erstkontakt mit ihrer neuen Passion, stand sie in einem gut ausgeleuchteten Boxring in einer Turnhalle in Hamburg, ließ sich vom Schiedsrichter die Regeln aufzählen und presste dreimal drei Minuten die Ellenbogen an die Brust und die rechte Gerade ins Ziel.
Das Besondere daran: Diesmal durften Zuschauer dabei sein. Man konnte erstmals öffentlich Treffer am weiblichen Dekolleté zählen und darüber streiten, wer die Bessere war. Eine Wertung gab es für diesen ersten Frauenfight nämlich nicht. Das war seinerzeit die Abmachung, und auch Gegnerin Ulrike Heitmüller sollte es recht sein.
Immerhin: Dem Frauenboxen wurde bei den „1. Hamburger Frauensporttagen“ abrupt der Tabuschleier weggezogen. Das Raunen in den Rängen war groß, das Medieninteresse noch größer, und so dauerte es kein ganzes Jahr mehr, bis sich zum Ringrichter die Punktrichter gesellten: 1995 wurde Frauenboxen in Deutschland legalisiert.
Ihren ersten Wertungskampf hat Marion Einsiedel dann gewonnen. Ihren letzten, den elften, verlor sie. Das lädierte Motorradknie machte weitere Kämpfe unmöglich. Das Ende einer Leidenschaft bedeutete dies jedoch nicht.
Heute, Boxlichtjahre später, ist es deshalb auch nicht unbedingt ein verbrämter siebenfacher Fingerknöchelbruch mit Schnurbart, der einem tränenüberströmten Wettverlierer zur Begrüßung die Hand abdrückt, sondern im Zweifelsfall eine mild lächelnde Marion Einsiedel in langer blauer Trainingshose und weißem Vereins-T-Shirt mit der Aufschrift „BSV 19“. Denn inzwischen ist aus der Vorkämpferin mit dem angenehm freundlichen Gesicht und den kurzen dunklen Haaren eine Boxtrainerin geworden; die einzige sogar, die in Norddeutschland die B-Lizenz besitzt.
Mit der darf sie Boxer bis zu nationalen Meisterschaften begleiten. Die A-Lizenz hat sie klar im Visier, und damit die Erlangung des Rechts auf Betreuung von internationalen Amateurboxkämpfen. Damit wäre Marion Einsiedel, die hauptberuflich in einem Fitnesszentrum arbeitet, die erste deutsche Frau, die sich auf das internationale Trainerparkett vorwagt. Olympia nicht ausgeschlossen. Zumal die 38-Jährige zugibt, erst als Rentnerin die Boxpratze abgeben zu wollen: „Die Stunde bei meinen Boxern ist die Stunde am Tag, wo es mir wirklich gut geht, wo ich ganz bei der Sache bin, wo mir nichts weh tut“, stellt sie fest. „Warum sollte ich das aufgeben?“
Für diesen ganz privaten Luxus nimmt Marion Einsiedel in Kauf, auch manchmal am Wochenende für ein Call-Center arbeiten zu müssen. Auch um das Geld dazuzuverdienen, das sie benötigt, um sich als Trainerin selbstständig zu machen.
Dreimal pro Woche kümmert sich die gebürtige Bayerin derweil in einem flachen und engen Seitenschlauch der Hamburger Sporthalle um ein illustre Schar von Freizeitboxern. Es sind dies zumeist Studenten, die im Verzeichnis der lieferbaren Sportarten der Uni Hamburg auf das Reizwort Boxen gestoßen sind, und, getrieben von einer Mischung aus Neugier, Fight Club und Mutprobe, kurz vor 20 Uhr an die Hallentür klopfen, ihre Bandagen anlegen und – falls sie neu sind – am nächstbesten Sandsack testen, ob sie mit dem Talent des k.-o.-Schlages gesegnet sind.
Wackelt der Sack, oder knallt und hallt es beim Aufprall in der richtigen Lautstärke, wird es in aller Regel schwer, die von sich selbst beeindruckten Neuankömmlinge wieder loszuwerden. Oder diese auf Partnerarbeit einzustellen. Von Unkundigen wird nämlich oft ausgeblendet, dass Boxtraining nur zu einem Bruchteil aus der Arbeit am Sandsack besteht.
Trainerin Einsiedel achtet sehr darauf, dass sich ihre Schützlinge ständig auf neue Übungskontrahenten einstellen. In den Boxgruppen kombiniert sie folglich immer mal wieder Fliegen- mit Federgewichten, alte Hasen mit Greenhorns, Rechtsausleger mit Linksboxern, sowie – „ich bin Fan von gemischten Gruppen“ – Frauen mit Männern.
Eine Übung aus der „Boxgrundschule“ steht an. Die Leute versammeln sich: Marion Einsiedel hat übrigens nicht geschrieen, um von ihrem Rudel gehört zu werden; sie hat auch nicht zusammengebeten.
Der Kreis um sie herum bildet sich von alleine. Selbst ungeduldige Ringtänzer voller überschüssiger Energie lassen für eine Weile die Arme hängen und schauen aufmerksam zu, wenn die Frau in der Mitte anfängt, in sanften, beinah pazifistischen Worten zu erklären, warum für eine maximale Trefferwirkung eine Gewichtsverlagerung nötig ist.
Dann macht sie vor, wiederholt die Bewegung, zieht einen Haken in Zeitlupe hoch, hält inne: Für Sekunden kann man eine dreidimensionale Abbildung aus einem Boxlehrbuch erblicken, kann um sie herumgehen, verstehen, im Kopf aufnehmen, damit in eine Hallenecke gehen und so lange nachahmen – monatelang wohl – bis man selber vormachen könnte. Die Trainerin hilft dabei. Sie schreitet von Boxer zu Boxer und widmet jedem ein Stück Zeit: Mal korrigiert sie, mal scherzt sie, mal guckt sie nur. Sie legt den Kopf nur ganz leicht zur Seite, wenn sie vor einem steht und die Haltung beurteilt. Oder sich eine neue Übung ausdenkt. Ganz sicher: Während der nächsten Tagen werden die Faustkämpfer allesamt Muskelkater haben, und zwar im Gesäß. Und überraschenderweise in den Waden. Vor drei Jahren hatte Boxtrainerin Einsiedel ein ehrgeiziges Talent unter ihren Fittichen: einen tschetschenischen Flüchtling namens Harun. Als dessen Blitzkarriere mit einem Hamburger Titel eingeläutet wurde, stellte ein Mediziner fest, dass die Karriere sofort wieder gestoppt werden müsse, weil die Sauerstoffversorgung für Haruns Herz gefährdet war: Folge einer vor Jahren eingeschlagenen Nase, in der ein Knorpel zum Stöpsel wurde und einen der beiden Luftzugänge verschloss. Angeblich war ein russischer Gewehrkolben im Spiel gewesen. Harun gab auf und wurde nur noch selten in der ventilatorverdröhnten Boxhalle gesichtet. „Was sehr schade ist“, befindet die Trainerin, „man kann ja auch trainieren, ohne dass man später Kämpfe bestreitet“.
Wie sie es sagt, klingt es zurückhaltend, fast vorsichtig. Den richtigen Ton, so hat es den Anschein, trifft sie immer. So wie die Lücke in der gegnerischen Deckung. Aber sie schlägt nicht zu, stellt niemanden bloß. Als Trainerin zeigt sie nur an. Bundeswehrdrill ist etwas anderes. Wobei: Zuspätkommer müssen auch bei ihr Liegestütze machen.